demnächst, naja, sagen wir: bald über:

… Steffen Kopetzky: Risiko (vermutlich in kleinen Por­tio­nen) und viel­leicht über den poli­tischen Roman der Wei­ma­rer Re­publik mit Be­mer­kungen zu Falladas Kleiner Mann – was nun? Eventuell auch ein paar Sätze über Victor Serge: Der Fall Tulajew oder über Johnsons Drittes Buch über Achim (gut ist das schon!), über die Struktur von Rilkes Malte Laurids Brigge oder das eine oder andere über Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (wer außer mir und Jochen Bojanowski hat die gelesen?)
Planänderungen vorbehalten

Vorläufig endgültige Urteile:

18. Februar 2020: Einige Bemerkungen (die als kurze geplant waren) zu drei Texten (von denen zwei ziemlich kurz sind), die ich in letzter Zeit (zu Ende) gelesen habe:
Heinrich Manns Die kleine Stadt hatte ich aus dem Tausch­schrank am Neumarkt geholt (in der »Studien­aus­gabe in Einzel­bänden«, die Peter-Paul Schneider herausgegeben hat – Frankfurt am Main: Fischer, 7. Aufl. 2003 –, die aber dem Text von Band 6 der »Gesam­melten Werke«, ediert von der Akademie der Künste der DDR im Aufbau-Verlag, folgt; Bearbeiter dieses Bandes war Gotthard Erler), weil es zu den Werken des Bruders ge­hört, gegen die Thomas Mann in den Betrach­tungen eines Unpoli­tischen anschreibt. Diese Ausgabe hat eine nützliche kleine Materialsammlung im Anhang (S. 459–483), bestehend hauptsächlich aus Briefzitaten, die Schneider zusammengestellt hat. Auch das kurze Nachwort (S. 431–446) von Helmut Koopmann ist einfühlsam und informativ; für 9,90 Euro hat man seinerzeit eine brauchbare Edition erhalten (sie ist sogar noch lieferbar, jetzt für 20 Euro, aber der Verlag bietet z. Z. vier verschiedene Ausgaben an, es ist ein bisschen un­über­sicht­lich). – Meine Anmerkungen (vom 22. Februar) sind ziemlich lang, ziemlich lückenhaft und stehen ziemlich weit unterhalb.

Édouard Louis, Wer hat meinen Vater umgebracht?, Lizenz­ausgabe der Bücher­gilde Gutenberg der 2019 bei Fischer erschienenen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel; das Original, Qui a tué mon père?, wurde 2018 von Éditions du Seuil in Paris publiziert. – Die Notizen dazu sind nicht zu lang geworden und stehen unter dem Datum vom 19. Februar.

Herman Melville, Bartleby, in der guten Penguin-Aus­gabe »Billy Budd, Bartleby, and Other Short Stories«, New York 2016, mit einer wirklich literatur­kritischen, kundigen, wohl­dosierten Ein­leitung von Peter Coviello.

Die Abfolge macht ein gewisses Bedürfnis nach Kontrasten sichtbar, auch wenn wieder einmal kein Werk der art pour l’art dabei ist. Nun, es ist heute etwas spät geworden und die Noten zu Heinrich Mann und Édouard Louis (aus dessen Werk werde ich bloß eine Passage zitieren) sind noch nicht fertig; aber die (gänzlich über­flüssigen) zu Bartleby veröffentliche ich jetzt noch, denn wenn ich eine Nacht darüber schliefe, würde ich mich wohl nicht mehr trauen. Warum? Die Geschichte hat nicht gerade nötig, von mir ›interpretiert‹ zu werden … Aber es ist eine von den Geschichten, aus denen der Leser etwas machen muss, die er nur achselzuckend weglegen könnte, wenn er nicht ein bisschen daran herum­grübelt, die er aber nur dann fade finden kann, wenn er das Pech hat, sie auf Anweisung eines Lehr­plans unter Anleitung fader Deutsch­lehrer ›inter­pre­tieren‹ zu müssen … Hier also die Klausur, die ich im Gym­nasium glücklicherweise nicht zu schreiben hatte, naja, das Schmier­blatt dazu:

Bartleby ist auch einer von den Texten, die berühmt dafür sind, dass sie den Versuch anzu­geben, was der Autor damit habe sagen wollen, ad absurdum führen (den Versuch, mit so einer Angabe anzugeben, auch, ja). Coviello spricht ein paar Lesarten an, von denen mich die ‚queere‘ vielleicht am wenigsten überzeugt … aber auch dieser Aspekt ist da (und nicht nur von anderen Werken Melvilles nahegelegt), Bartleby will den Erzähler, seinen Chef nicht verlassen, der weiß nicht recht, woher seine Rührung eigentlich kommt – das hätte man früher ›latent erotisch‹ genannt, aber andererseits, welche menschlichen Beziehungen sind das nicht, gerade von den merklich ambivalenten? Soweit macht Melville die Dinge bloß nicht eindeutiger, als sie sind. Ein biss­chen distanzierter stellt Coviello die Inter­pretation vor, nach der Melville in beiden Figuren das Schreiben und Aspekte des Schrift­steller­daseins thematisiert, räumt aber ein, dass der Er­zähler gleich zu Beginn über den literarischen Wert von Bartlebys Leben reflektiert. Ich fand spätestens die vom Erzähler angebotene Hinter­grund­geschichte ziemlich deutlich: Bartleby soll, und das sei kaum mehr als ein Gerücht, zuvor in einer für unzustellbare Sendungen zustän­digen Post­stelle, dem „dead letter office“ gearbeitet haben (p. 54). Und diese mögliche Vor­ge­schich­te ist eine, die sich als passend, als erhellend aufdrängt … respektive eine Interpretation, die sich anbietet. Ich komme darauf zurück.
Was einfach nicht funktioniert, ist das Um- oder Fortschreiben der (nennen wir sie:) »Occupy-Wall-Street«-Inter­pretation, wonach Bartleby den ausgebeuteten Lohnarbeiter der Bürowelt re­prä­sen­tiert, Chaplins ›Tramp‹ als An­gestellter in etwa, der unter der entfremdeten Arbeit leidet – man wird nicht bestreiten wollen, dass diese Arbeits­bedingungen geeignet sind, einen Menschen zu verbiegen (wozu er vorher nicht gerade gewesen sein muss), aber auch nicht, dass der Zusam­men­hang in der Erzählung nicht entwickelt wird. Coviello möchte Bartleby nicht nur Opfer sein lassen und macht ihn also rüstig: „… If the extremity of his employer’s response is any apt measure, it is fair to say that Bartleby takes his estrangement from the compulsory servility of wage labor and, effectively, weaponizes it.“ (p. xvii) Nun, Bartleby verhält sich – anders als seine Kollegen Turkey und Nippers, wenn sie im Funktionsmodus sind – sehr bald nicht mehr servil, aber er setzt sein Verhalten nicht als Instrument ein, nicht als Waffe, er hat keine Kontrolle darüber. Sonst wäre sein Chef auch gar nicht ›ent­waff­net‹.

Stattdessen würde ich versuchsweise in der Interpretation von Bartlebys Opferrolle noch viel weiter gehen: Ganz un­verhohlen hat Bartlebys Wirkung auf den Anwalt (für die Wirkung kommt es darauf an, wie dieser dessen enig­matisches Gebaren auslegt) religiöse Züge und Ausmaße, spä­tes­tens seit jenem Sonntag Morgen, da der Anwalt sich zur Trinitatiskirche aufmacht „to hear a celebrated preach­er“ (p. 32), nur um dann den ein­samen Bartleby in seinem Büro an­zu­treffen und aufgehalten zu sein: „I did not ac­complish the purpose of going to Trinity Church that morning. Some­how, the things I had seen dis­qualified me for the time from church-going.“ (p. 35) Warum aber? Erregt Bartleby nicht des An­walts Mitleid, ja verschüttete Ge­fühle der Men­schenliebe? Der Erzähler wird sich nicht schritt­weise, son­dern in unverbundenen Momen­ten der Erschütterung klar darüber, dass Bartleby etwas in ihm be­wirkt, was ein noch so geschickter Prediger nicht hätte bewirken können, und wenigstens diese Wir­kung spricht er – besonnen und reflek­tiert, wie er ist, und auch mit selbst­verliebter Auf­rich­tigkeit ausgestattet – völlig deutlich aus: „But when this old Adam of resent­ment rose in me and tempted me concerning Bartleby, I grappled him and threw him. How? Why, simply by recalling the divine injunction: ‚A new command­ment give I unto you, that ye love one another.‘ Yes, this it was that saved me.“ (p. 43) Aber wer hat ihn ge­ret­tet, den alten Adam in ihm besiegt, so wie das zu geschehen pflegt und immer ge­schehen ist, bloß für den Moment? Wer hat ihm in diesem Moment das bündige neue Gebot eingegeben? Machen wir es kurz: Bartleby, das Lamm, der Er­lö­ser.

Wenn man die so angedeutete Lesart noch ein gutes Stück weiter durchhalten und auf einige Einzel­heiten mehr ausdehnen kann, wird die Erzählung auch darin nicht zur Erbauungs­literatur. Die Zer­knir­schung des Anwalts geht längst nicht weit genug, Bartleby vergibt ihm am Ende auch nicht, denn er weiß, was sie, ein­schließlich dessen, der sich nun sein Freund nennt, mit ihm ge­macht haben, und er weiß, dass sie es wissen. Einen ge­wissen Charme gewinnt diese Inter­pre­ta­tion, nach der der Er­zäh­ler sich, höchstens halb bewusst, bemüht, Bartleby einige der sanf­ten Züge des Erlösers zuzu­schrei­ben, eigentlich erst, wenn man sich wieder er­innert, dass er der Schreiber ist (nein: sein könnte), der es zu lange mit toten Buch­staben (nein, nein: Brie­fen!) zu tun hatte. Der Schriftsteller als Erlöser des auf­merk­samen, einfühl­samen Lesers, der sich die Ge­schich­te schließ­lich selbst erzählen muss? Das wird nicht Melvilles Ernst sein, sondern bloß ein schel­mischer Gedanke „at which good-natured gentle­men might smile“ – aber einer, den ich dem Autor von Bartleby (der sich über seine Leser gar keine Illusionen zu machen scheint) schon zu­traue.


Mir gefällt die Idee (meine und eventuell auch seine, die sicher dritte nach ihm, jeden­falls vor mir hat­ten) und an der Geschichte gefällt mir auch, dass ich keine Ahnung habe, was es mit Bartlebys Ver­mö­gen, die Leute das Wort „prefer“ gebrauchen zu lassen, auf sich hat (es sei denn, es wäre ein Zeichen und Wunder der Macht … des Dich­ters?), wie man die my­thisch mit dem Zen­tral­gestirn ver­bun­de­nen Doppel­charaktere der älteren Ange­stellten und die bemerkens­werteren Umstände von Bartlebys Dasein in der Kanzlei (die Blicke aus den Fens­tern zumal) mit der Lesart verbinden sollte, was man wohl tun müsste, wenn man etwas literatur­wissen­schaft­lich oder auch nur für den Deutsch­unter­richt Brauch­bares ab­liefern wollte. „I prefer not to.“ (Dann wird es wohl nicht für eine 4 reichen.)
Was ist übrigens ein ›Klassiker der Welt­literatur‹? Sofern ein Autor gemeint ist (Melville ist einer, kein Zweifel), macht man es sich, indem man einer solchen Einordnung in den Kanon zustimmt, doch längst nicht zur Pflicht und Aufgabe, alle seine Werke zu lesen (seine frühen Romane
Omoo und Typee zum Beispiel — bitte mal die Hand heben? … Sag ich doch. Es gibt Aus­nah­men wie antike Schrift­steller, von denen nicht viel erhalten ist … und Shakespeare halt), solange es sich um einen Schriftsteller in einer fremden Sprache handelt. Bei den Auto­ren der eigenen Sprache, die man dazu zählen möchte (die Weltliteratur ist je nach Land recht verschieden), ist das ein bisschen anders. Man hat wenigstens das Bedürfnis nach Werkausgaben (oder gilt das nur noch für die bedrohte Gattung der Germanisten?). Ach, das hat eh nur noch Sinn für ge­druckte Bücher, denn ein Klassiker ist mindes­tens nicht mehr ganz jung, eher bald siebzig Jahre tot, und dann kann man ihn digital in Erst­aus­gaben oder in Ausgaben letzter Hand lesen, sogar ohne schlechtes Gewissen. Bei Heinrich Mann ist das mit Ablauf des Jahres so. [Morgen also etwas über »Die kleine Stadt«. Dann eliminiere ich sicher auch noch ein paar Tippfehler.]

Heute (19. Februar 2020) ist mir beim schweifenden Nachdenken über Louis’ Büchlein Kracauers Ginster in den Weg geraten. Ich frage mich, welchen Fiktionalitätsgrad man dem Text von Louis zu­schreiben soll und warum er nicht eine fiktionalisierte Biografie seines Vaters geschrieben hat (dazu müsste man den Text na­türlich zuerst mit En finir avec Eddy Bellegueule von 2014 ver­glei­chen, das habe ich aber nicht gelesen, Ginster schon). Louis schreibt (anscheinend) sehr direkt von sei­nen Erin­ne­run­gen an seinen Vater, damit auch viel über seine eigene Kindheit. Er scheint aus der Fantasie nicht mehr hinzuzutun, als das in Erinnerungen, Kind­heits­erin­ne­rungen ohnehin ge­schieht. Aber es geht ihm um das ganze Leben seines Vaters. Nur weiß er nicht viel davon, und das hat viele Gründe, von denen einige mit dem Charakter dieses Lebens zu tun haben.

Wer ›plötzlich‹ mit der Erwartung konfrontiert wird, zur Feier des fünf­und­sieb­zigs­ten, acht­zigs­ten, neun­zigs­ten Geburts­tags seines Vaters oder seiner Mutter ein paar Worte zu sagen, hat sich vielleicht ein­gestehen müssen, dass er diese Person, über die er sprechen soll, nicht kennt, nicht weiß, was sie geprägt hat, wie sie auf­ge­wachsen ist, wie sie sich in ihrer Jugend ihr Leben vor­ge­stellt hat, wie sie zu einem Partner, zum ersten Kind gekommen ist. Natürlich könnten die Eltern erzählt haben, mehr als nur ein paar in der Familie beliebte Anek­doten, die Kinder könnten ge­fragt haben, Vater oder Mutter könnten sich biografisch gerecht­fertigt haben. Vielleicht hatten sie Lust, die Kinder an ihrer Jugend teilhaben zu lassen, an der Zeit, als die noch nicht dabei waren. Das wird wohl auch vorkommen.

Häufiger, normaler scheint der Fall zu sein, dass Kinder wenigstens mit einem Eltern­teil, meis­tens dem Vater, nicht viel reden oder jahre­lang gar nicht. Und sich Jahr­zehnte später fragen, ob sie jetzt noch damit anfangen sollen, ob es sich noch lohnt, ob die alten Leute es noch aus­halten. Der Vater des Erzählers (von dem der Autor sich mit keiner An­deu­tung distanziert) in Louis’ Text ist ein ›ein­facher‹, ›un­ge­bil­de­ter‹ Arbeiter. Und er ist, das dar­zu­stellen ist Louis’ Ziel, gefangen in seiner Idee von Männ­lichkeit. So ein Mann spricht nicht viel von sich, er wüsste auch kaum wie; vielleicht lässt er manchmal die Frau erzählen, wie er damals war.

Der Sohn ist anders. Je mehr sie miteinander sprechen müssten, desto weniger können sie es tun. Der Junge wünscht sich, sein Vater würde verschwinden, oder wenigstens soll sein Auto nicht vor dem Haus stehen, wenn er von der Schule nachhause kommt. – Louis macht die Di­stanz ver­ständ­lich, ihre Vergrößerung, um sich dann dem Leben seines Vaters wieder zu nähern. Das ist nicht ori­ginell. Und die »einfachen, schwierigen Ver­hält­nisse« (wie es im Wiki­pe­dia-Artikel mit un­frei­wil­li­gem Oxy­moron heißt) aus denen der Autor stammt, sind auch schon wieder­holt ge­schil­dert und überdies trist (aber in seiner Er­zäh­lung nicht farblos, nicht monoton; ohne­hin: kann man gegenüber den Wid­rig­keiten im Leben eines aufgeweckten Kindes jemals gleichgültig blei­ben?). Louis will auch nicht nur einen Beleg für Theo­reme von Bourdieu oder Eribon liefern – frei­lich kann man sich Leser vorstellen, die sein Büchlein lesen (»Du kaufst meine Bücher, du ver­schenkst sie nach links und nach rechts«, sagt er S. 76 von seinem Vater, der sich verändert hat), die Eribon oder Bourdieu (oder »Das Kapital«) nie lesen würden, nicht lesen können, die Louis aber verstehen, denn man lernt aus Litera­tur leicht, was man irgendwie schon wusste, unnötig ist das gar nicht – sondern er will in guter fran­zösischer Intel­lek­tuel­len­tra­di­tion anklagen: Chirac, Sarko­zy, Hollande, Macron und ihre Finanz- und Sozial­minis­ter. (Das ist es letztlich auch, wofür sein Vater ihn auf die Schule geschickt hat, gibt er zu ver­stehen. Und hat nicht ein Mann die Auf­gabe, seinen Vater zu rächen?) Es ge­lingt ihm ganz gut; ich halte es nicht für die größte Qua­li­tät des Buches, nicht weil es Politik ist, sondern weil es vielleicht nicht ausreicht, Macrons Sozial­politik anzuklagen, weil der Vater nämlich nicht nur die fünf Euro der monat­lichen Miet­bei­hilfe verdient hätte, die Macron gekürzt hat (während er die Ver­mögens­steuer gesenkt hat). Es hat mich über­rascht, dass Louis so wenig über die Wurzel des Übels sagt. Aber Gym­na­sias­ten und Studenten stehen nicht in der Fabrik neben den Vätern (es gehen immer noch nicht alle ins Büro) und sind nicht dabei, wenn das Un­glück geschieht; das ist ein Grund.

Trotzdem sagt Louis ganz bemerkenswerte Dinge über das Politische im Privaten. (Jetzt kommt end­lich das ver­sprochene Zitat und dann bin ich gleich fertig.)

»Einmal wurde im Herbst die jährliche Unter­stützung, die jede Familie erhielt, um Schul­sachen für die Kinder kaufen zu können, Hefte, Schul­taschen, um hundert Euro erhöht. Du warst ver­rückt vor Freude, du riefst im Wohnzimmer: ›Wir fahren ans Meer!‹, und wir stiegen zu sechst in unseren Wagen, einen Fünfsitzer – ich in den Kofferraum, wie die Geisel in einem Spionage­thril­ler, ich liebte das.

Der ganze Tag war das reinste Fest für uns.

Bei denen, die alles haben, habe ich nie gesehen, dass eine Familie ans Meer fährt, um eine poli­tische Ent­schei­dung zu feiern, denn für sie ändert die Politik so gut wie gar nichts. […] Die Herr­schenden mögen sich über eine Links­regierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechts­re­gie­rung beklagen, aber keine Regierung be­reitet ihnen jemals Ver­dau­ungs­pro­bleme, keine Regie­rung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Re­gierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren. […] Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. […]« (S. 71f.)

Mehr Louis zu lesen könnte sich lohnen, deucht mir (möglichst auf Fran­zö­sisch, denn mir gefällt auch diese sehr di­rekte Sprache), Eribon vielleicht auch; von Bourdieu denke ich das schon länger, schon seit vor dem Fall der Mauer … »Du warst beim Fall der Mauer schon über zwan­zig, und ich er­sann den ganzen Tag lang Fragen, die ich dir stellen wollte: Kanntest du jeman­den, der die Mauer noch gesehen hatte, […]«, S. 31f. Ich habe noch Fotos, richtige Fotos von 1988 von der intakten Mauer. Dem Alter nach könnte ich der Vater sein, der tote.

Schließlich (22. Februar 2020) wie versprochen noch ein paar Anmerkungen und Fragen zu dem Ro­man »Die kleine Stadt« von Heinrich Mann, der als durchdachte, wohlkomponierte epische Großform natürlich eine gründ­lichere Untersuchung erfordern würde, wenn ich ihm irgendwie gerecht werden wollte. Statt­dessen will ich nur wenige Überlegungen mitteilen, naja eher aus­breiten (in der Hoff­nung, dass sie besser sind als nichts, ich bin damit noch gar nicht zu­frieden), die mir in den Sinn ge­kommen sind, weil ich ab und zu über die For­men und Möglichkeiten des politischen Romans im 20. Jahrhundert nachdenke – eine ganze Reihe der lite­rarisch be­deu­ten­den Romane dieses Zeit­raums sind ja un­be­streit­bar politisch, bei­spiels­weise auch Musils »Der Mann ohne Eigen­schaften« (oder der kürzlich er­wähnte »Ginster« Kra­cauers, der übrigens von einem Mann ohne Eigenschaften handelt). Ich meine, wie man sieht, nicht nur Werke, bei denen sich die bewussten oder separat geäußerten Wir­kungs­ab­sichten ihrer Autoren im Politischen (wie immer das dabei begriffen wird) er­schöpfen. Im Augenblick würde ich un­ge­fähr sagen, ich meine litera­rische Werke, die geeignet sind, das poli­tisch-ge­sell­schaft­liche Selbst­ver­ständ­nis ihrer (zeit­ge­nös­si­schen) Leser zu be­einflussen. Das ist natürlich vage, muss es aber auch sein, weil eine solche Wirkung nicht messbar, kaum jemals eindeutig fest­stell­bar ist. ¹

Im Fall der »Kleinen Stadt« hat der Autor beim Erscheinen 1909 betont, es handle sich um ein poli­ti­sches Buch, und einer der ersten aufmerksamen und kompetenten Leser, sein Bruder Thomas, stimmt ihm darin zu, lange bevor er sich über politische Fragen mit Heinrich entzweit. Heinrich hat, um dem schlep­penden Verkauf und dem geringen Verständnis bei der Kritik auf­zu­hel­fen, einen kur­zen Werbe-»Pro­spekt« verfasst, der mit hallen­den Wor­ten schließt: »Man höre hin: was hier klingt, ist das hohe Lied der Demokratie. Es ist da, um zu wirken in einem Deutschland, das ihr endlich zu­strebt. Dieser Roman, so weitab er zu spielen scheint, ist im höchsten Sinn aktuell.« (S. 474) ²

Der Bruder Thomas hatte mit seinem Brief vom 30.9.1909 das Stichwort geliefert: »Das Ganze liest sich wie ein hohes Lied der Demo­kratie, und man gewinnt den Eindruck, daß eigentlich nur in einer Demo­kratie große Männer möglich sind. Das ist nicht wahr, aber unter dem Eindruck Deiner Dich­tung glaubt man es.« (S. 464) Thomas hat des Bruders Absichten verstanden, stimmt aber mit den Thesen und der Ten­denz nicht überein; Heinrich bekräf­tigt sie im »Prospekt« mit Nach­druck.

Man könnte nun diese Selbstinterpretation zusammen mit der in dem offenen Brief an die Re­zen­sentin Lucia Dora Frost (erschienen in »Die Zukunft«, 18. Jg., Nr. 21, 19.2.1910, S. 265f.; Koop­mann be­nutzt ihn im Nachwort; im Mate­rial­­an­hang ist er S. 479–481 wiedergegeben, danach zitiere ich mit dem Kürzel oB) ganz gut zum Leit­faden einer zweiten Lektüre machen, denn wenn der Autor auch kein besserer Interpret seines Werkes ist als ein denkbarer Leser, so kennt er vermutlich sein Buch doch ganz gut – und in diesem Fall wird die Selbst­inter­pretation noch vom Zeugnis des Bruders ge­stützt, der ein ziemlich kom­petenter Leser ist. Versuchen wir es. Der große Mann, nach den Maß­stä­ben der kleinen Stadt, den die Demokratie möglich macht, ist zwei­fels­ohne Ad­vokat und Lokal­poli­tiker Belotti: »Wenn ich auf Etwas in diesem Buch stolz bin, so darauf, daß der Advokat Belotti, lächerlich, wie er ist, seine tragische Stunde erlebt; daß er nicht aufhört, ein Kirchturmpolitiker zu sein, wäh­rend in ihm Etwas wie die Verkürzung eines großen Mannes entsteht.« (oB, S.479) Worin liegt seine Größe? Er kämpft für den Fortschritt, er wirkt nicht nur in der Demokratie, sondern fördert sie, setzt sie durch, führt das Volk im Geist der Brü­der­lichkeit zu höherer Menschlichkeit – irgend so etwas muss es sein, das kann man schon dem »Pro­spekt« und dem offenen Brief ent­neh­men.

Was geschieht konkret im Roman (der sich jetzt ein bisschen wie ›die Wirklichkeit‹ zur Theorie zu ver­halten be­ginnt)? Belotti hat im Stadtrat durchgesetzt, dass ein auswärtiges Ensemble en­ga­giert wird, damit unter der Leitung des orts­an­säs­si­gen Kapell­meisters Dorlenghi im alten Schloss­theater die berühmte Oper eines großen Natio­nal­kom­po­nisten, ›Die arme Tonietta‹, auf­ge­führt werden kann. Dieser Be­schluss wurde bereits ge­fasst, bevor die Handlung einsetzt, in der ersten Szene (der Aus­druck passt ganz gut auf Teile des hand­­lungs­­sat­ten Romans) sehen wir füh­ren­de Herren der Stadt (ex­klusive der eigent­lichen Ober­schicht der Grund­be­sitzer) auf dem Markt­platz im Café »Zum Fort­schritt« (der also zuerst in etwas lächer­li­cher Gestalt ins Bild ge­langt) sitzen und par­lieren, während sie die Ankunft dieser Truppe erwarten. Die Kirche, vertreten durch den Dompriester Don Taddeo, hatte vor­läufig vergeblich opponiert.

Bald erfahren wir noch, dass Belotti auch dafür gesorgt hatte, dass die Stadt ein erstes Elek­tri­zitäts­werk er­richtet, eine große In­vestition, die er gegen seinen (nur) haus­hälte­risch den­ken­den Gegen­spieler, den Ge­mein­de­sekre­tär Camuzzi, vehement als zum Fortschritt gehörig verteidigt (S. 17f.). Eine andere neue öffentliche Ein­richtung, die es ohne den Einsatz des Advokaten nicht ge­ge­ben hätte, das Wasch­haus, spielt später eine Rolle, weil diese Mühe­wal­tung ihm, nicht zu Un­recht, Sym­pa­thien im ›ein­fachen Volk‹ ein­ge­bracht hat.

Der Konflikt, in dem Belotti sich bewähren muss, entzündet sich aber nicht an den Infra­struktur­in­ves­ti­tio­nen der Stadtgemeinde, die Bürger geraten vielmehr über die Opernaufführung in Wal­lung, Zank und schließ­lich in ge­walt­same Frak­tions­kämpfe. Don Taddeo hört nicht auf, bei den Kirch­gän­gern, vor allem den Kirch­gänge­rin­nen des Ortes gegen die Un­moral Stimmung zu machen (re­spek­tive die Ge­wissen auf­zu­rüt­teln), die mit den »Komö­dian­ten« Ein­zug gehalten hat. Die Er­­eignisse ge­ben ihm reichlich An­lass, denn Künstler und Klein­städter nehmen sich schon im ersten Auflauf bei der An­kunft der Post­kutsche gegenseitig als ero­tisches Frei­wild wahr. Die zahl­reichen vor-, außer­- und nach­ehe­lichen Be­ziehungen, die sich anbahnen, sind nicht nur Nähr­boden der Leiden­schaften, der Be­gier­den, der Eifer­sucht, des Neides – alles in allem sind sie auch eine zeitweise Be­frei­ung. Belotti, der als Student in Perugia mit Schau­spie­ler(in­ne)n der Oper ver­kehrte, erinnert sich im Café an die Choristinnen … und die Herren um ihn, größtenteils Fa­mi­lien­väter, freuen sich recht einmütig darauf, dass es »lustig« wird, wenn die Künstler erst an­ge­kom­men sind (S. 15). Zum Fortschritt, das macht Belotti freilich nicht explizit zum Pro­gramm, gehören gewisse mo­ra­li­sche Locke­rungen. Die Handlung erkennt sozusagen an, dass sich die Opposition der Kirche de facto nicht nur engstirnig gegen die Kunst und ihre Frei­heit richtet, sondern dass der von ihr behauptete Zusammenhang zwischen dieser Freiheit und Li­ber­tinage besteht. Der Advo­kat muss also meinen, dass aus der (zeit­wei­sen?) Lo­cke­rung der Sexual­moral der bür­ger­lichen Ord­nung kein Schaden entsteht. Sprechen die Ge­scheh­nisse nicht ganz und gar dagegen? – Heinrich Mann stellt jeden­falls einen Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Po­li­tik, zwischen Sexualmoral und Fort­schritt her, er stellt ihn sogar deutlich heraus. (Thomas geht spä­ter in den »Be­trach­tun­gen eines Un­poli­tischen« darauf ein – das Thema ist ihm ja keineswegs fremd …)

Besteht Belottis (leicht lächer­liches, klein­for­­ma­­tiges) Heldentum nur darin, aus dem Durch­ein­ander, das er an­ge­rich­tet hat, sich wieder heil her­aus­zu­win­den? – Im ›offenen Brief‹ erklärt Mann, er habe sich die Aufgabe gestellt, eine mehr als hundert­jährige Ent­wick­lung (man könnte Zivi­li­sa­tion sagen, im prozess­haften Sinn) komprimiert darzustellen; erstaunlicherweise zieht er als Vergleich eine lang­fris­tige Wir­kung von Rous­seaus »Contrat social« heran, den er als philo­so­phi­schen Roman (eigent­lich bloß als »Traum eines Romanciers«), nicht als Werk der Wis­sen­schaft behandelt. Und in ihm sieht er ein Ideal zum Ausdruck gebracht, das Men­schen be­geis­tern kann, ja er meint sogar, dass das franzö­sische Volk (auch einst­weilen stell­ver­tretend fürs ita­lie­ni­sche) »auf der Grund­lage des Traumes vom Contrat social, mit keiner anderen Be­grün­dung« »in vielen Anläufen ein jedes­mal weniger ver­zerr­tes Bild der Freiheit und Ge­rech­tig­keit auf­ge­stellt hat« (oB S. 480). Passt das über­haupt mit dem Ro­man Heinrich Manns zusammen? Offenbar nur, wenn man sich die Wir­kungs­mo­mente des »Contrat social« auf­ge­spal­ten denkt: Hie der Stich­wortgeber, der die Ideen von 1789 (oder die Gari­baldis, dar­auf kommt es in der großen Per­spek­tive nicht an) verkündet, zwar in recht platter Form, aber un­er­müdlich, der aber allein wenig Enthu­si­as­mus zu erregen, zu unter­halten ver­mag – dort die Kunst, in der Ge­stalt der Oper, die Musik der ›Armen Tonietta‹ (»Bewe­gung und Tätig­keit, das ist alles, und das lehrt uns die Musik des Maestro Viviani«, sagt der Advokat, S. 225), die die nicht allzu raf­fi­nier­ten, aber tief mensch­lichen (»Ein gan­zes Volk hält sich um­schlun­gen und ver­brü­dert sich«, kom­men­tiert der Literat Ortensi, S. 170) Ideen des Li­bret­tos, dar­unter die Treue!, den Her­zen der Hörer und Zu­schau­er ein­schreibt. Und auf einer an­de­ren Ebene der ›Traum des Roman­ciers‹ Heinrich Mann von einer un­mit­tel­baren Wir­kung seiner Kunst auf die poli­ti­schen Ver­hält­nisse im deut­schen Kaiserreich …

Aber noch einmal: Was be­wirkt Belotti, ab­ge­sehen davon, dass sich nach dem großen Krach alle wie­der ver­tra­gen? Im Roman hängt der glückliche Ausgang, die große Versöhnung doch auch davon ab, dass Don Taddeo aus Leiden­schaft erst zum Mordbrenner wird und anschließend – auch helden­haft – ver­sucht, das Schlimmste zu verhüten und den Rest wieder gut zu machen. Dass also die mora­li­sche Auto­rität der Kirche von innen zer­setzt wird. Sind in Don Taddeos schwa­chem Geist die Ideen der Auf­klärung wüh­lend wirk­sam ge­wor­den? Nein, er er­liegt nur seinen Trie­ben, der an sich mensch­lichen Schwäche, der allzu lange unterdrückten Natur (hat die Auf­klä­rung ja immer gesagt; eine junge Frau, die vor dem Schick­sal bewahrt werden soll, eine Nonne werden zu müssen, gibt es übri­gens auch) … solange, bis – nicht der positive Glaube, aber der an die Nächs­ten­liebe doch noch siegt. Und in dieser Liebe zu den Menschen sind sich Belotti und Don Taddeo dann einig.

Alles schön und gut (ein bisschen zu gut, um episch richtig schön zu sein vielleicht, aber klei­nere Tra­gö­dien ent­hält das Buch ja auch). Nur wie kommt die Demokratie ins Spiel? Der Advokat plä­diert für die Freiheit, nicht an erster Stelle für die Ordnung. Er bekämpft den Ge­sin­nungs­geg­ner, aber es bleibt selbst­verständlich, dass es die anderen Frak­tio­nen gibt, dass die Hand­wer­ker ihre Interessen ver­tre­ten wie die Bauern, die Arbeiter und wie die ›auf­ge­klär­ten Bürger‹, die wohl­ha­ben­den Frei­be­rufler und höheren Beamten. So selbstverständlich, dass es nicht gesagt wird, ja in der Un­ord­nung glatt ver­gessen werden könnte, auch vom Leser. Belotti kämpft (meis­tens) mit offe­nem Visier, seine Waffe ist (meis­­tens) das Wort. Seine Gegner in­tri­gie­ren, lügen, heucheln (kräf­ti­ger), drohen (auch mit dem Teufel), erpressen, schrecken vor der An­stiftung zum Mord nicht zu­rück.

Die Klassen der Gesell­schaft der kleinen Stadt zanken sich, auch im The­a­ter, aber sie kommen zu­sam­men, sie begegnen sich, sie hören sich und manchmal hören sie sogar alle gleichzeitig zu (das allein reicht aber nicht: Sie treffen sich nicht im Fußballstadion, dort auf der Bühne des Theaters wird ihrer aller Sache, die der Mensch­heit halt, ver­handelt …). Das Theater verkörpert die Prinzipien der Ge­mein­schaft und der Öffentlichkeit, und man ten­diert, wenn man diese Verkörperung betrachtet, wohl da­zu, erstere auf letztere zu re­du­zieren, lieber nicht an schmutzig-materielle Elemente von Ge­mein­schaft und Brüder­lich­keit (doch, man könnte auch Ge­schwis­­ter­­lich­keit sagen) zu denken … na, man darf schon daran erinnern, dass dieser Aufschwung des öf­fent­li­chen Lebens auch dem lokalen Schnei­der­hand­werk zu Gute kommt, das vorzeigbare Garderoben anzufertigen hatte, den Bürger­fleiß also be­lohnt und an­sta­chelt (S. 229f.).

Alles in allem: Die politischen, sozialen, ökonomischen Verhältnisse, die der Roman skizziert, sind recht alt­backen – und die Ideale nicht auch? Der ›Zusammenhalt‹ der Gemeinde wird auf die Probe gestellt vom Streit über eine Theater­auf­führung; ja, die Bürger tragen sie unter sich aus, der Unter­prä­fekt hält sich (im mut­maß­li­chen Gegen­satz zu einem preu­­ßi­­schen Land­rat oder Re­gie­rungs­präsi­den­ten) heraus. Man kann Meinungs­ver­schieden­heiten über die Leistungen von Schau­spie­lern zen­surfrei in Journalen dem Publikum vortragen, wie erfreulich. Das Gewerbe scheint nicht so entwickelt, dass man über Reklame sprechen müsste (und den Ein­fluss der Inse­ren­ten auf den re­dak­­tio­­nellen Inhalt). Die Sozial­ordnung bereitet in ihrer geradezu stän­di­schen Sta­bili­tät und Selbst­­ver­­ständ­­lich­keit nie­man­dem Sorge, die Grund­besitzer sind in der Hauptsache am bun­ten, demo­kra­ti­schen Treiben in der Stadt un­be­tei­ligt, zumal die Fürstin, die gnädig geruht hat, das Schlosstheater zur Ver­fü­gung zu stellen. Belotti ist übri­gens der Sachwalter der Fürsten­familie; das dürfte seine Haupt­ein­nahme­quelle sein, darüber muss man aber nicht reden. Viel­leicht ist es ganz gut, dass der Advokat nicht von Demo­kratie spricht, sondern vom Fort­schritt, denn letz­terer mani­festiert sich unleugbar auch im elek­tri­schen Licht, erstere wäre kaum mehr als eine Phrase (unter­schätzen wir die Phra­sen nicht).

So ver­wun­derlich ist es also gar nicht, wenn Thomas Mann irgend­wo (ich muss noch nach­sehen) eine Ver­wandt­schaft zur ›demokratischen‹ Tendenz seines Romans »Königliche Hoheit« kon­ze­diert. Es geht um Sitten, um Zivi­lisa­tion, um die An­er­ken­nung von nicht mehr länger zu leug­nen­den ge­sell­schaft­lichen Tatsachen. (Das ist nicht son­der­lich zu­kunfts­weisend, aber auch nicht völlig überholt; Demokratie muss man heute noch so spielen und man kann heute noch leicht hinter die nötige Zivi­li­sa­tions­stufe zurück­fallen, man kann sogar nicht nur …) Um Ge­schmacks­fragen: Thomas mag den Advokaten nicht, der sich dem Volk bequem macht, er hält es (in den »Bud­denbrooks«, IV.3) mit dem Pa­tri­zier, der der Menge ent­gegen­tritt, wohl­wollend, aber nicht ohne Ver­achtung, wenn sie Politik, gar Re­vo­lu­tschon (dumm Tüg!) machen will. Der Roman ist aber nicht schlecht, weil Heinrich Manns po­li­tisches Pro­gramm veraltet und un­zu­läng­lich ist; er ist sogar dennoch auch als poli­tische Literatur ziem­lich gut, weil man am Modell der ›Kleinen Stadt‹ allerhand studieren kann. Weil darin die Mög­lich­keit vor­­kommt, dass Belotti schei­tert (wie förder­lich es ist, dass er schon der Span­nung halber schei­tern können muss, dass es bei­nahe hart auf hart gehen muss, um seinen Mut her­aus­zu­keh­ren!), dass seine Ge­gen­spie­lerin Ober­hand gewinnt, die den skrupellos ehrgeizigen, halb­talen­tierten Savezzo engagiert, der nicht als Dun­kelmann ge­boren ist, aber sich dazu eignet, der den ›Mittel­stand‹ auf­hetzt, den De­ma­go­gen spielt, nein, in der Klein­stadt übt … und weil er dort einstweilen schei­tert, eine größere Bühne sucht. Das weist, gegen die Wir­kungs­ab­sich­ten und leider, weiter in die (italienische und deut­sche) Zukunft voraus.

Gut ist das Buch auch als Kunst- und Künstlerroman. Da hat er es nicht nur mit den »Bud­den­brooks« zu tun und mit »König­liche Hoheit«, sondern auch mit dem 1911 verfassten »Tod in Vene­dig«. Zwei Mal Italien, zwei Mal Musik, einmal eine aufstrebende, problematische, aber sei­nem Volk verbunden blei­bende Puccini-Figur (»Mein junger Kapellmeister, seine glühende Sehn­sucht, Musik für ein ganzes Volk zu ersinnen, ist meine An­schauung des wer­denden Puccini: meinen Roman hätte ich sonst nicht geschrieben«, S. 462, sagt Heinrich viel später in »Ein Zeit­alter wird besichtigt«), dort der alternde, ein­same (eben des­halb so ge­fähr­dete, würde Hein­rich sagen, viel­leicht nur so ein gro­ßer Mu­si­ker, meint Thomas), strenge deutsche Komponist, der tief fällt; im Hintergrund Verdi gegen Wagner. Hier ein Künst­ler, dort eine Gruppe von Künst­ler­figu­ren, alle­samt auf eigene und gemeinsame Art proble­ma­tisch, bürgerlich, bis auf den Familienvater und treuen Freund Gaddi, wenig verlässlich – aber ge­tragen von der Begeisterung des Publikums, weiter­ge­tra­gen von seinen Er­war­tun­gen … dazu eine etwas mystische, etwas spuk­hafte Gestalt, ein ehe­ma­li­ger, vergessener, um den Verstand ge­kom­me­ner Schauspieler, beinah ein Dorfnarr, Brabrà, älter noch als der Cavaliere Giordano, auch dieser ehe­mals ge­feiert, geadelt, aber ein ge­schmink­ter Alter. »Er war alt, man konnte nicht zweifeln. Runzeln umgaben ihm Augen und Mund. Das matte Karmesin der Wangen war Schminke, das braune Haar unter dem farbig um­wun­denen Stroh­hut Pe­rücke«, halt, pappappapp, das ist nicht der Cavaliere, dieser Geck be­geg­net Aschenbach auf dem Dampfer nach Venedig! Und bei Heinrich stirbt schließ­lich der junge Tenor, er wird von seiner jungen, starken, aber zwei­fels­ohne weib­li­chen Geliebten er­sto­chen – alles ganz anders!

[Ich fürchte, diesen Text sollte ich noch ein paar Mal überarbeiten, nicht nur der Lücken wegen.]

1 Koopmann zitiert (ohne eine unmittelbare Quelle nachzuweisen) im Nachwort eine sehr starke Passage aus einem Dialog, »Können Dichter die Welt ändern?«, den Gottfried Benn 1930 für den Rundfunk geschrieben hat: »Sie wollen also sagen: Die Penthesilea ist eine große Dichtung, aber sie hat nicht die geringste Wirkung ausgeübt, weder politisch noch sozial noch in der Bildungsrichtung. […] Genau das will ich sagen. Und ferner, daß vor unseren Augen das Beispiel der nächsten großen deutschen Dichtung nach Penthesilea, nämlich Die kleine Stadt von Heinrich Mann, genau so wenig irgendeine Wirkung aus­geübt hat, nicht einmal eine stilistische. Man kann es nicht anders ausdrücken: Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe.« (S. 432f.) Warum ihre Größe gerade in der Wirkungslosigkeit liegen müsste, weiß ich nicht, aber man wird nennenswerte Wirkungen von Kunstwerken (nicht von anderen Tätigkeiten von Künstlern) kaum ad oculos de­mons­trie­ren können. – Benns Wertung der Kleinen Stadt ist, davon abgesehen, frappierend.

2 Der Verleger, der Insel-Chef Anton Kippenberg, hat genau diese Zeilen abgeändert zu: »Es braucht nicht ausgeführt zu werden, in­wie­fern dieser Roman, so weitab er zu spielen scheint, im höchsten Sinn aktuell ist.« (S. 475) Wenn Kippenberg das ernst ge­meint hat, wäre die direkt politische Bedeutung des Buches, jedenfalls des inhaltlichen Kerns seiner stofflichen Anlage, ganz offen­sicht­lich.   [zurück]

2. Januar 2019, zwei kurze Bemerkungen zu zwei ganz (aber schon aus ontologischen Gründen nicht restlos) verschiedenen Büchern:
Heinrich Steinfest: Nervöse Fische, Kriminalroman, 15. Aufl., München: Piper 2014 (EA 2004)
und
Alexander Schimmelbusch: Hochdeutschland, Frankfurt am Main, Zürich, Wien: Büchergilde Gutenberg 2018 (OA: Stuttgart: J. G. Cotta 2018)

Heinrich Steinfest kann man den Erfolg mit diesem Buch und mit anderen Werken nicht mehr nehmen, was aber auch gar nicht meine (von Hybris durchtränkte) Absicht wäre. Das Buch liest sich spannend, Steinfest kann schreiben und formulieren, man erfreut sich an hübschen Inte­rieurs in der Krimi­hand­lung (etwa der Schil­de­rung, wie der Vater des Inspektors Suppe löffelt und ein Brot sorg­fältig gemäß der Be­deckungs­­theo­rie belegt) und mit diesem Kriminal­inspektor Lukastik ist ihm eine überzeu­gende Figur gelungen, der der Leser mal mit Skepsis, mal mit Be­lusti­gung, aber immer mit dem nötigen Grad an Sympathie begegnen kann. Eine geradezu chandlereske atmosphärische Spannung erzeugt Steinfest dadurch, dass er Detektiv und Leser rasch ahnen lässt, es sei um die psychische Gesundheit mancher Figuren nicht zum Besten bestellt. Aber dann spielt er klugerweise mehr mit den Erwartungen eines Chandler-Lesers und inszeniert nicht in der österreichischen Provinz (in der gleichwohl ein „Sanatorium“ situiert sein kann) häufigere und heftigere Entladungen der Ge­walt, die in der Luft zu liegen scheint, als das lokale Klima erwarten lässt.

Man kann auch nicht sagen, dass der Autor das Genre des Kriminal­­romans (in dem sich nicht nur der Detektiv der Auf­klärung widmen soll) nicht der Struktur nach ernst nimmt: Dem typischen anfänglichen Rätsel, wer den Mord begangen habe, fügt er das auch nicht un­ge­wöhn­liche Rätsel hinzu, wie die Tat denn begangen worden sein könnte (so haben das schon Arthur Conan Doyle und Agatha Christie mit schönem Erfolg gehand­habt). Und die erste dieser beiden Standard­fragen wird auch beantwortet, zur inneren Befriedigung Lukastiks, der mit Wittgenstein (Tractatus, 6.5) der Auf­fas­sung ist, es gäbe keine wirklichen Rätsel.

Die Beantwortung der zweiten Frage allerdings erfordert im Roman so etwas wie einen zweiten Schluss und in diesem Teil (S. 250-317) macht die Erzählung auf Wahr­schein­lich­keit nicht mehr viel Anspruch  (das war auch vorher nicht ihr Haupt­merkmal, aber dabei wurde allenfalls küchen­psycho­logische Stimmig­keit strapaziert), um es milde zu sagen. Da gibt es einen wahn­sinnigen Be­stat­tungs­unter­nehmer samt Ehefrau und Assistenten, der für gute Kunden auf­wendige Tötungen auf Verlangen inszeniert, aber bei der Identitäts­prüfung schludert, eine Crowd post­moderner Jugend­licher, die eben jener Tötung (obwohl es nicht viel zu sehen gibt) tatenlos zusehen, eine Grotte unter einem Hoch­haus­bau der 70er Jahre, deren Existenz vertuscht worden ist, wohl um die Bewohner jenes Hoch­hauses nicht ›unnötig‹ zu be­unru­higen, obwohl man einen Fahr­stuhl bis dort unten gebaut hat und in Betrieb hält (man muss halt den geheimen Code kennen, der andererseits im Namen einer Web­site leicht ver­schlüsselt vorliegt …), und in jener Grotte Lebewesen einer Spezies, die da nicht hingehört und die deswegen genetisch verändert worden sein muss, was bei einer italie­nischen Chemie­firma in den 60er Jahre geschehen sein könnte, worauf mindestens zwei un­aus­ge­wach­sene Ex­em­plare bei einem Flug­zeug­ab­sturz in ein Wiener Bäch­lein und von dort irgendwie …

Damit wird Lukastiks offenbar nicht mehr moderne Auffassung von der prinzi­piellen Auf­klär­bar­keit der Fragen, die sich der Kriminal­polizei stellen können, sozusagen widerlegt. Es ist aber fad, einer ›rea­listisch‹ gestellten Frage auf ›fantas­tische‹ Weise eine Antwort zukommen zu lassen, die allerhand Rätsel­haftes einschließt, her­auf­­be­schwört, konserviert. Das Mysteriöse dringt ins Be­wusst­­sein mo­derner Städte­bewohner dann so ein, wie es wohl – nüchtern betrachtet – eindringen muss, nämlich gar nicht: Wer etwa schon zu glauben bereit ist, die Behörden (Wiens) hätten nichts Besseres zu tun, als irgend­wem irgendwie (politisch?) unan­ge­nehme Ent­de­ckun­­gen (›Fak­ten‹) zu ver­tuschen und das wäre bei Dutzen­den von Mit­wissern, die man gar nicht zur Ge­heim­hal­tung ver­pflich­ten kann, ein aus­sichts­reiches Unter­fangen und üblich, der wird auch an einem solchen Krimi­nal­roman­schluss nichts An­stößiges finden, vielleicht seine Freude daran haben. Aber daran ist einiges fischig.

Schimmelbuschs Buch hat andere Absichten, hier geht es (direkter) um sati­rische Zeit­dia­gnose, und wer möchte be­streiten, dass unsere Gegen­wart die nötig hat. Der Autor schildert einen Invest­ment­banker in fast schon mitt­leren Jahren (ge­schie­dener Vater einer Tochter, der er er­geben ist, Teil­haber eines hoch­spezia­lisier­ten, er­trag­reichen Finanz­unter­nehmens), der sich noch im Jahr 2017 darüber wundert, dass nach der »Finanz­krise« hier­zu­lande keine ernst­hafte Dis­kussion über die Ver­tei­lung des Ver­mögens auf­ge­kommen ist. (Wir er­innern uns, es wurde kurz über die Be­gren­zung von Manager­gehäl­tern ge­spro­chen, aber man musste schnell einsehen, dass es wenig Zweck hat, Eigen­tümer resp. Share­holder resp. deren Re­prä­sen­tanten, also andere Manager, daran hindern zu wollen, noch für den Ruin ihrer Firmen Millionen­prämien zu vergeben.)

Schimmel­buschs ganz und gar nicht tumber, sondern analyse­starker Banker, der sich im hei­mat­lichen Frank­furt immer weniger heimisch fühlt, weil es sich so arg nach den Regeln ver­ändert hat, die seines­gleichen vor­gegeben haben, ist, wie mir scheint, ein ent­fernter Ver­wand­ter von Delius’ Held der inneren Sicher­heit. Beide stehen der ›Macht‹ (nicht jener, die auch im Jahr 2019 mit dem geneigten Leser dieser Home­page sein möge, sondern eher der, die seinerzeit in »Welt im Spiegel« Schnödes Mammon ge­nannt zu werden pflegte) nahe genug, um dem klein­bürger­lichen Leser Ein­blicke zu ge­währen in Sphä­ren, in die er auch durch die Buchung eines Wochen­end­schnäpp­­chens im Adlon nicht wirklich vor­stößt.

Während F. C. Delius aber seinen Helden in wenigs­tens schein­bar drama­tischen Zeit­läuften (im pathe­tischer­weise nicht nur von einem Hambur­ger Nach­richten­maga­zin, das für Allerlei zu haben ist, immer noch so ge­nannten »Deutschen Herbst«¹) an einer konflikt­reichen Position instal­lieren konnte (als Zu­arbeiter eines Arbeit­geber­präsi­denten, dessen mög­licher­weise dauer­hafte, sagen wir, Ver­hin­derung Vor­berei­tungen aus­grei­fen­der Per­sonal­rocha­den ver­an­lasst), muss Schimmel­busch ein bisschen Hand­lung ganz aus der Psyche eines Selbst-schon-ziemlich-Mäch­tigen ent­wickeln, dem außer dem Ab­drif­ten in einen 800-Euro-die-Flasche-Alko­holis­mus wirklich nichts droht. Also muss er uns wohl oder übel mit den aus­schwei­fen­deren Ambitionen seines Prota­gonisten bekannt machen; einer­seits einer von in­formierter Natio­nal­nostal­gie nicht ganz freien Schrift­stellerei (leider ist die Lektorin eines deutschen Buch­welt­kon­zerns nicht so leicht herum­zukriegen wie ein Bundes­finanz­minister), anderer­seits einer Programm werdenden politischen All­machts­fantasie von un­ge­brems­tem Schaum. Schimmelbusch mutet uns das auf Wirkung kalkulierte Pamphlet ungekürzt zu; eigentlich schön ist das nicht. Seit ein paar Jahren, speziell seit der letzten Bundes­tags­wahl weiß man freilich, dass selbst Par­tei­pro­gramme, die von vielen narzisstisch Gekränkten auf einmal am Wirtshaustresen ausgeheckt worden zu sein scheinen, ein Stück weit (wie weit, wissen wir noch nicht) in Rea­lität umschlagen kön­nen. Schimmel­busch kann sich, zumal in satirischer Absicht, also ein ordent­liches Maß an Zu­mutung und dann auch an Fan­tas­tik er­lau­ben, wenn er fünf­zehn Jahre in die Zu­kunft zu blicken vorgibt, dann doch noch die his­to­risch offen­bar zu ir­gend­­etwas not­wen­digen, diesmal radikal­markt­libe­ralen Terro­ris­ten zu­schlagen lässt … ein deutsches U-Boot taucht auch noch auf … naja, wenn ich das so auf­schreibe, klingt es stofflich viel­leicht ein bisschen pro­vin­ziell (Deutsch­land ist trotz Wieder­ver­eini­gung kleiner ge­worden), aber doch ganz amüsant, oder? Delius ist besser, kon­trol­­lierter, seiner Mittel stärker bewusst, viel­leicht klüger, er wahrt ein dem Leser an­geneh­meres Gleich­ge­wicht zwischen Ge­scheh­­nissen und Re­flexio­nen, muss nicht alle Einfälle loswerden, aber aus Schimmelbusch kann als Schrift­­steller (In­vest­ment­banker war er schon) auch noch etwas werden, und wenn man ihm quan­ti­fizier­bare An­reize geben will, sollte man das Buch kaufen (und dann auch lesen, der Grenz­nutzen­maxi­mie­rung wegen).


1 Das hatte ich, offen gestanden, so dahin­geschrie­ben, ohne einen Beleg im Sinn zu haben. Eigent­lich habe ich es jenem un­sink­baren Flagg­schiff des deutschen Quali­täts­journa­lis­mus, dessen zahlen­der Passa­gier ich nicht bin, bloß zuge­traut. Tat­säch­lich hat man, wie rasches Googlen zeigt, in der Hanse­stadt im Jahr 2017 ein Jubi­läums­heft (Nr. 35) zu den Ereig­nissen pro­duziert, dessen Titel­seite neben, unter anderem, einer gezeich­neten Wieder­gabe des Por­träts des ent­führ­ten Mana­gers unter dem fünf­zacki­gen Symbol der Ent­füh­rer und einer Pistole die Parole »40 Jahre Deutscher Herbst« ziert. Viel­leicht hätten sich die Mit­glie­der der terro­risti­schen Ver­eini­gung, die dem ge­werb­lichen Jour­nalis­mus so viel auf­triebs­siche­ren Stoff ge­liefert haben, die Wort­marke schützen lassen sollen. Aber die haben, unter anderem, zu wenig an die Alters­vor­sorge ge­dacht.

16. Mai 2017, ergänzt und korrigiert am 18. und 20. Mai (Vorsicht, lang!)
Heinz Rein: Finale Berlin, mit einem Vorwort von Fritz J. Raddatz, Frankfurt am Main u.a. 2015 (Büchergilde Gutenberg, Lizenz Schöffling & Co.), 1. Aufl. dieser Ausgabe 1980, EA 1948

Obwohl ich schon vor geraumer Zeit einige an sich bemerkenswerte Beobachtungen am Text des ›Romans‹ von Heinz Rein gemacht habe, fällt es mir schwer, meine Eindrücke auszuformulieren und zu fixieren. Das liegt daran, dass ich nicht recht weiß, welche Schlüsse aus diesen Befunden zu ziehen wären, weder für die Be­wer­tung des Romans (nun, man wird sehen, dass mir dieser Eintrag darüber mehr Klarheit verschafft hat) noch für die Gattung, der er angehört, überhaupt.

Ich möchte keine Inhaltsangabe geben; Rein will die Schlacht um Berlin und die Endphase der natio­nal­sozialis­tischen Herrschaft in Deutschland schildern. Er erzählt zu diesem Zweck die Ge­schichte einer kleinen Gruppe von Oppositionellen (im Kern Sozialdemokraten und Kom­mu­nis­ten), auf die ein politisch völlig unerfahrener junger Deserteur Mitte April 1945 im Zentrum von Berlin stößt. Die Geschichte ist im Ganzen ein bisschen un­wahr­schein­lich; die wenigen Akteure tun und erleben gar zu viel in den paar Tagen bis zur Kapitulation von Groß-Berlin Anfang Mai. Um den dokumentarischen Einsprengseln (in Form von Zeitungs- und Rund­funk­zita­ten) und den langen Reden der politisch geschulten älteren Leute etwas ent­gegen­zu­setzen, das eine Roman­hand­lung ausmachen kann, schreckt er auch vor Span­nungs­effek­ten des Krimi­nal­ro­mans nicht zurück (womit dem Deserteur Gelegenheit gegeben wird zu zeigen, dass es ihm keineswegs an Mut fehlt …). Dagegen ist nicht viel zu sagen, die Handlung erlaubt dem Autor auch, gesell­schaft­lich und politisch ganz unterschiedlich lokalisierte Personen ins Geschehen zu ziehen, karriere­be­wusste An­gestellte in Ministerien, Polizisten mit unter­­schied­lichen Aufgaben und Ge­sinnun­gen, Privat­leute, die zäh am Glauben an Führer und End­sieg hängen, und viele ›einfache Berliner‹, die mit heiler Haut davon­kommen möchten und darauf warten, dass es vorbei ist.

Hat der Roman als solcher auch seine Schwächen, so ist er doch von der ersten bis zur letzten Seite eine faszi­nierende Lektüre. Die Mischung aus Narration und Dokumentation erzeugt beim Leser – gerade in der Kom­bi­nation mit der politischen Reflexion der Figuren, die man ihnen abnimmt – das Gefühl, mitten im Geschehen zu stehen (wenngleich glücklicherweise als unverwundbarer Beobachter); man erfährt so viele Details sowohl aus dem Alltagsleben der späten Kriegsjahre als auch über die schwer vorstellbaren Kampfhandlungen mitten in Berlin, dass man schon aus Neugier viele Seiten des dicken Buches rasch verschlingt.

Fiktive Handlung hin oder her, die Wirkung des Buches beruht (zumal bei den Nachgeborenen) zu einem großen Teil auf diesem Eindruck der Authentizität, um den der Autor auch wesentlich bemüht ist, wie man an den wörtlichen Zitaten aus Reden und Leitartikeln, an den präzisen Orts­angaben und daran sieht, dass die Handlung sozusagen den Frontverlauf immer genau berück­sichtigt. Genau deshalb gibt es zwei Problemfelder, die beide mit der Genese des Textes, mit den Zeitumständen zu tun haben, aber auf unterschiedliche Weise.

Den ersten Komplex spricht Raddatz in seinem Nachwort (zur neuen Auflage 2015 der Neu­aus­gabe von 1980) an. Er spricht umstandslos von ›sachlichen Fehlern‹, die mit der Eile bei der Ab­fassung zu erklären wären (S. 754f.). Raddatz wird sich für das kurze Nachwort auch nicht viel Zeit genommen haben, er urteilt jedenfalls schlicht nach historischem common sense: »… natürlich standen im April 1945 der deutschen Luftwaffe keine Stukas mehr zur Verfügung, die im Buch noch scharenweise in den Kampf um Berlin eingreifen und massen­weise Zivilisten in den Tod bomben. Es gab ja nicht mal mehr Benzin für die Kradmelder.« Ganz so einfach ist das nicht, mindestens bis Mitte März hat die Luftwaffe gele­gentlich noch hochmoderne Arado-Düsen­bomber eingesetzt (gegen die Eisen­bahn­brücke über den Rhein bei Remagen); Flugzeuge waren, im Gegensatz zu Benzin und Piloten, ohnehin noch reichlich vorhanden. Man liest (ohne völlig verlässliche Quellenangaben) auch noch von Luft­waffen­ein­sätzen während der »Schlacht um die Seelower Höhen« ab 17. April. – So leicht lassen sich Schlach­ten­details halt nicht aufklären; dieser angebliche Stuka-Einsatz in der Lands­berger Chaus­see (S. 588f.) klingt besonders spekta­kulär und dabei auch ein bisschen wie nach dem Hören­sagen beschrieben (welche Quelle käme sonst dafür in Frage? Er hat nicht am nächsten Tag in der Zeitung gestanden …). Ähnliches kann man über die (ebenfalls außerhalb der eigentlichen Handlung berichtete) Sprengung des Karstadt-Ge­bäu­des am Hermann­platz (S. 589-591) sagen oder über die Flutung des S-Bahn-Tunnels unter dem Land­wehr­kanal (S. 592f.; Wolfgang Schneider schreibt dazu in der FAZ-Rezension des Romans vom 7.5.2015: »Die Flutung des Nord-Süd-Tunnels der S-Bahn wird vom 2. Mai auf den 25. April verlegt und als apo­kalyp­tische Kata­strophe beschrieben, als perfider Massen­mord an den vielen Menschen, die dort Zuflucht vor den Kämpfen suchen. Aber bis heute ist umstritten, ob durch die Flutung überhaupt Men­schen umkamen.«).
° RNZ


Liest man dazu Wikipedia-Artikel und sonstige Inter­net­quellen, gewinnt man den Eindruck, dass das Ge­schich­ten waren, die in der münd­lichen Über­liefe­rung in der Stadt schnell die Rolle von Kristal­lisa­tions­punk­ten ge­spielt haben mögen: sozusagen als Minia­turen, die den ganzen Irrsinn der Schlacht und der Zer­stö­rung der Stadt überhaupt erzähl­bar machen (in Varianten werden sie sicher noch lange fort­erzählt werden). Rein setzt sie auch ein, um immer wieder eindeutig die Schuldigen zu benennen und sie als rück­sichts­lose Ver­brecher (auch gegenüber dem eigenen Volk) zu denunzieren. Genau scheinen sich die Abläufe bei speziell diesen Vorgängen nicht mehr klären zu lassen; in gewisser Weise hat Rein ganz recht, die Ver­ant­wor­tung der Nazis dafür her­aus­zu­strei­chen, während eine Art Un­schulds­ver­mutung der ab­wägen­den Dar­stel­lungen in der Wikipedia dann ver­gleichs­weise bizarr wirkt.

Aber jeder Ankläger riskiert (das ist eine Lehre der Rhetorik, nicht der Geschichte) sehr schnell die Glaub­­wür­dig­­keit seiner Be­schul­di­gungen, wenn er es mit den Tat­sachen nicht so genau nimmt. – Der Sache mit dem ver­meint­lichen deutschen Luft­angriff auf flüch­tende Zivi­listen in der Lands­berger Chaussee hoffe ich irgendwann noch nachgehen zu können; es wäre schön, Rein in diesem Punkt re­ha­bili­tieren zu können oder wenigstens irgendeine Gewiss­heit zu erlangen.

Gravierender als nicht mehr belegbare und im Roman zwangs­läufig unbelegte Einzel­heiten (frei­lich, die Ge­schichte ist die Summe der einzelnen Gescheh­nisse …) scheinen mir die Ver­än­de­run­gen zu sein, die der Text zwischen 1947 und 1980 erfahren hat, und über die der heutige Leser nur ganz un­zu­reichend unter­richtet wird. In der Titelei liest man bloß, die Neu­aus­gabe folge »der Ausgabe der Bücher­gilde Guten­berg von 1980, ›die vom Autor über­arbeitet und ver­bes­sert wurde.‹« An­füh­rungs­zeichen deuten eine Distan­zierung von dieser Bemerkung an, worin die aber bestehen könnte, lässt sich nicht aus­machen. Raddatz geht im Nach­wort nicht auf die Ver­ände­rungen ein, er erwähnt nur sicher­heits­halber, dass ihm die Bücher­gilde-Aus­gabe von 1980 vor­liege (S. 754). Claus-Ulrich Bielefeld vermerkt in einer Rezen­sion in der
Litera­rischen Welt vom 18.4.2015, S. 2: »Leider wird vom Verlag nicht mitgeteilt, warum man diese Fas­sung der ursprüng­lichen Fassung von 1947 vorgezogen hat.«

Diese Frage hat es in sich. 1980 wird die Ant­wort, was den Verlag angeht, schlicht darin bestanden haben, dass der Autor es so wollte, und vielleicht geht es aus recht­lichen Gründen (der Autor mag Ent­spre­chendes letzt­willig verfügt haben o. dgl.) auch 2015 noch nicht anders. Motive dafür, warum der Autor (auch der Verlag?) aber nicht einfach die Ori­ginal­fas­sung wieder auflegen lassen wollte, kann man erkennen, wenn man den all­ge­meinen Charakter dieser Änderungen feststellt.

Das ist weder außer­ordent­lich schwer noch ganz einfach. Nicht ganz einfach, weil es 1947 einen Vor­abdruck in der
Berliner Zeitung gab (sagt im Augen­blick noch der Wiki­pedia-Artikel zu Heinz Rein, tatsächlich beginnt der Vor­ab­druck schon 1946, s. An­mer­kung unten) und im gleichen Jahr die erste Buch­aus­gabe bei Dietz in Berlin erschien – durchaus möglich, sogar wahr­schein­lich, dass es Unter­schiede zwischen dem Vor­ab­druck und dem Buch gibt. Wenn man es aber nicht darauf abgesehen hat, eine voll­stän­dige Text­ge­schichte zu ermitteln,¹ dann kann man sich leicht in einer größeren Biblio­thek ein Exemplar der Dietz-Aus­gabe aus­leihen und ver­gleichen, denn, wie der Wiki­pedia-Autor schreibt, »das Buch er­reichte 1951 eine Auflage von 100.000 Exem­plaren und zählte zu den ersten Best­sellern der deutschen Nach­kriegs­zeit.« Es gab sogar schon Anfang der 50er Jahre (offen­sichtlich aller­dings gekürz­te) Über­setzungen ins Eng­lische und Pol­nische.

Die Universitäts­bibliothek Mannheim besitzt ein Exemplar der ersten Buch­fassung, das auf dem Verso des Titelblatts präzise Infor­ma­tionen bietet: »Für Erich Weinert | Ge­schrieben Dezem­ber 1945 | bis März 1947 | 51.–60.Tausend | Copy­right 1948 by Dietz Verlag GmbH, Berlin · Printed in Germany · Alle Rechte | vor­behalten · Gestal­tung und Typo­graphie: Dietz-Entwurf · Ver­öffent­licht unter | Lizenz-Nummer 341 der Sowje­tischen Militär-Admi­nistra­tion in Deutsch­land […]«. Man sollte vielleicht registrieren, dass der Autor für seine Schil­derung keine strikte Un­mittel­barkeit be­ansprucht: Zwischen den Ereig­nissen und dem Beginn der Nieder­schrift des Romans wäre dem­nach ein gutes halbes Jahr ver­strichen.

Dieses Exemplar hab ich nun mit der oben genannten Aus­gabe von 2015 verglichen, nicht Zeile für Zeile, aber doch so, dass ich die Mehr­zahl der Seiten wenigs­tens quer­gelesen und mir die Um­gebung von auf­fallen­den Ände­rungen genauer angesehen habe; für inhalt­lich rele­vante Varian­ten sollten meine Beob­ach­tungen eini­ger­­maßen reprä­sen­tativ sein.

Rein hat den Text nicht durchgehend stilistisch überarbeitet. Als stilistische Änderung kann man aber die häu­figen Kürzungen von Zitaten aus Zeitungen (
Berliner Morgenpost, Das Reich, Angriff) werten, man ver­gleiche exem­plarisch 1948 S. 42-45 mit 2015 S. 49f. Einige dieser Änderungen dienen offensichtlich und wohl aus­schließ­lich der Straf­fung des Textes, die Nazi-Tiraden sind tat­sächlich so hohl, dass durch die Strei­chungen nicht viel verloren geht.

Anders verhält es sich vielleicht mit folgender Kürzung einer dem Anschein nach in beiden Fas­sungen voll­stän­digen Wieder­gabe eines Beitrags von Robert Ley im
Angriff, 21.4.1945 (1948 S. 433-435, 2015 S. 462f.). 2015 fehlen folgende Sätze: »Was wäre aus dem deutschen Volke geworden, wenn die Vorsehung uns diesen Mann nicht geschenkt hätte? So die Frage stellen, heißt, sie bereits beantwortet zu haben. Wäre Adolf Hitler nicht ge­kommen, wäre heute das deutsche Volk gar nicht mehr da. In Mittel­europa würde ein bolsche­wis­tisches Chaos herrschen und ein völlig verarmter, arbeits­loser, hungern­der Haufen von ver­tier­ten Menschen würde von jü­dischen Kom­mis­saren ausgebeutet und versklavt sein. Die Masse der deutschen Nation wäre längst auf die Hälfte dezimiert, und was übrigblieb, wäre so kraftlos und phy­sisch und seelisch so verdorben, daß man nicht mehr von einem Volke reden könnte. Dann wären bereits Millionen deutscher Männer und Frauen auf kaltem Wege nach Sibirien ab­trans­portiert. Dann wäre alles das bereits zur Tatsache geworden, was sie uns jetzt täglich prophezeien. Allerdings hätten wir dann keinen Krieg, weil wir zu schwach wären, um uns zu wehren. Wir hätten aber viel Schlimmeres: Wir hätten den sicheren Tod. […] Wir sind – dank der Stand­haftig­keit des Führers – im Spiel geblieben, und wir werden weiter im Spiel bleiben. […]« (der Satz Wäre Adolf Hitler nicht … auch 2015, aber nicht hervor­gehoben). – Die Inter­preta­tion dieser Streichung ist heikel, und ohne eine voll­ständige Über­sicht über die Varianten möchte ich mich darauf nicht einlassen.

Später sind Anspielungen der NS-Autoren auf die Erwartung, dass sich die West­mächte früher oder später gegen die Sowjet­union wenden müssten, nicht mehr wiedergegeben (vgl. 1948 S. 560-562 mit 2015 S. 598f. und die Wiedergabe eines Leitartikels von Otto Kriegk in der
Nacht­aus­gabe, 1948 S. 570f., 2015 S. 608f.). – Einen zwingen­den Grund für solche Strei­chungen sieht man nicht, immerhin tangieren sie die politische Aus­sage des Romans bereits.°°RZ2

Nun wird eine der Haupt­figuren, der Wider­­stands­­kämpfer Wiegand, an der Stelle, an der seine poli­tische Ge­schichte ein­ge­führt wird, quasi ent­­stali­ni­siert:


»Das habe ich ja nun kapiert«, sagt Lassehn und stimmt in das Lächeln der Männer ein, »Sie leben in legaler Illegalität. Weshalb aber leben Sie illegal?« |[61] »Auch das sollen Sie erfahren, Herr Lassehn«, sagt Wiegand mit einigem Widerstreben. »Ich bin früher Gewerk­schafts­sekretär gewesen, bin später zur RGO gegangen …« »Ent­schul­digen Sie die Unter­brechung«, fährt Lassehn dazwischen und sieht Wiegand fragend an. »Was ist das, RGO?« »Ach so«, meint Wiegand nach­sichtig, »ich vergaß, daß Sie ja ein poli­tischer Säug­ling sind, bei dem man eigentlich ab ovo beginnen müßte, aber das würde heute wohl zu weit führen. Die RGO, daß heißt Revo­lutio­näre Gewerk­schafts-Oppo­sition, war der radikale linke Flügel der sozial­demo­kra­tischen Gewerk­schaften, von denen Sie wahr­scheinlich auch nichts wissen oder nur das, was Robert der Ley über seine torkelnde Zunge gebracht hat, aber darüber sprechen wir ein ander­mal. Ich ging also zur RGO und war an einigen Streiks, wie ich wohl sagen darf, her­vor­ragend beteiligt. Als unser lieb­werter Partei­genosse, Minister­prä­sident und Forst­meister Hermann Göring am acht­und­zwan­zigs­ten Februar neun­­zehn­hundert­drei­und­dreißig den Reichs­tag an­steckte, da bin ich zum ersten Male fest­gesetzt worden. […]«

(1948 S. 60f.)


»Das habe ich ja nun kapiert«, sagt Lassehn und stimmt in das Lächeln der Männer ein, »Sie leben in legaler Illegalität. Weshalb aber leben Sie illegal?« »Auch das sollen Sie erfahren, Herr Lassehn«, sagt Wiegand mit einigem Widerstreben. »Ich bin früher Gewerkschafts-|[66]sekre­tär gewesen und war an einigen Streiks, wie ich wohl sagen darf, hervor­ragend beteiligt. Als unser lieb­werter Partei­genosse, Minister­­präsident und Forst­meister Hermann Göring am acht­­und­­zwan­zigs­­ten Februar neun­zehn­­hun­dert­­­drei­­und­­dreißig den Reichs­­tag ansteckte, da bin ich zum ersten Male fest­­gesetzt worden. […]«

(2015 S. 65f.)


Über­raschen­der­weise wird die RGO-Ver­gangen­heit (man lese sich bei Bedarf über die »Revolu­tio­näre Gewerk­schafts-Oppo­sition« schlau) Wiegands später in der Neu­ausgabe doch erwähnt (1948 S. 200, 2015 S. 211).


Die wichtigsten Unterschiede betreffen aber nicht die Vergangenheit und den Charakter der Figuren – der stramme Kom­munist Schröter etwa, der immer noch Vor­behalte gegen Sozial­demo­kraten und Bür­ger­liche hat, wird auch in der Original­ausgabe als schroff und ein bisschen eng­stirnig geschildert. Ganz anders jedoch fallen in beiden Versionen die Bilder von den ›Befreiern‹ aus. Ein erstes Mal heißt es 2015 auf S. 588 von flüch­tenden Berlinern: »Sie ahnen nicht, daß ihre Hab­selig­keiten und ihre Frauen Beute der Sieger werden.« Der Satz fehlt 1948.

Im nächsten Absatz (1948 S. 550f.) fehlt 2015 folgender Text: »[…] die Söhne des siegreichen Volkes. Die Men­schen, die der Wahnsinn irrsinniger Politiker und verantwortungsloser Militärs aus ihren Wohnun­gen auf die Landstraße gestoßen hat, blicken zuerst scheu auf die, die sie bisher ihre Feinde genannt haben, sie drücken sich dicht an die andere Straßen­seite, als müßten sie eine Berührung mit den Solda­ten in den grau-grünen Uniformen meiden, aber sie werden bald gewahr, daß die Sieger keine Soldaten mit grau­samer Herr­scher­ge­bärde sind, sie lachen, singen, spielen Mund­harmo­nika, winken und rufen un­ver­ständ­liche Worte in ihrer gut­turalen Sprache, sie haben offene und verschlossene, freund­liche und mürrische Gesichter, viele sind über­raschend blond und hell­äugig, andere sind fremdartig dunkel und haben schräg |[551] sitzende Augen, aber alle haben die breiten, derben, vertrauen­erweckenden Hände von Arbeitern und Bauern, und alle tragen sie den roten Stern mit Sichel und Hammer an ihren Mützen. Aus dem Rufen und Winken wird ein Zutrauen, und bald wandert manch ein Brot von der einen auf die andere Seite, wird ein Kind auf den Arm genommen und gleiten schwielige Hände über Knaben- und Mädchen­scheitel. Die Aus­gestoßenen atmen auf, zwar haben sie kaum mehr als das Leben gerettet, aber es ist warm und hell, und die feind­lichen Soldaten sind Menschen wie du und ich, eine Ahnung von Frieden zieht in die verstörten Gemüter und die verängs­tigten Herzen.
Da tönt von irgendwo, […]« (dieser Absatz wieder in beiden Ausgaben gleich, s. 2015 S. 588).

Noch prägnanter fällt der Unter­schied bei der Schilderung der ersten Begegnung der Prota­­gonis­ten mit sowje­­tischen Soldaten aus:

Wiegand holt tief Atem und geht auf den russi­schen Soldaten zu. »Towa­risch«, sagt er mit bewegter Stimme und streckt ihm die Hand hin.

Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzieht er die Lippen zu einem breiten Lächeln, das die Zähne bloßlegt.

»Towarisch«, antwortet er und ergreift Wiegands Hand.

(1948 S. 694)


Wiegand holt tief Atem, dann klettert er gewandt durch das Mauerloch und geht auf den russischen Soldaten zu.

»Towarisch«, sagt er mit bewegter Stimme und hebt die Hände hoch. Der russische Soldat blickt ihn ruhig an, dann verzieht er die Lippen zu einem verächt­lichen Lächeln und antwortet: »Nix Towarisch. Gib Uri. Dawai!«

(2015 S. 743)


Nach solchen Erfahrungen wundert man sich dann kaum noch darüber, dass Wiegand sozusagen im Jahre 2015 1945 schon klüger war als im Jahr 1948, im Gegensatz zum linientreuen Kommunisten:

1948 S. 701, Überschrift »… und neuer Anfang«

2015 S. 749 »Der neue Anfang?«


Langsam steigen Dr. Böttcher und Wiegand die Stufen einer breiten Treppe empor, […] (
1948 S.701)


Langsam steigen Dr. Böttcher, Wiegand und Schröter die Stufen einer breiten Treppe empor, […] (
2015 S. 749)


»[…] und ich verspreche Ihnen, dabei zu helfen, soweit es in meiner Macht steht. Die Rote Armee ist nicht als Feind des deutschen Volkes nach Berlin gekommen.« Der Major macht eine Pause und blickt auf den Feld­we­bel, dessen Feder eilig über das Papier gleitet.

(1948 S.702)


»[…] und ich verspreche Ihnen, dabei zu helfen, soweit es in meiner Macht steht. « »Davon bin ich fest über­zeugt, Genosse Major!« ruft Schröter. Dr. Böttcher und Wiegand schweigen. Der Major blickt auf den Feldwebel, dessen Feder eilig über das Papier gleitet.

(2015 S. 750)


Den Höhepunkt erreicht die Neubewertung der Situation vom Mai 1945 am Ende des Romans:

[…], taumeln Soldaten mit stumpfen Mienen und glanzlosen Augen zu den Sammel­stellen.

Dr. Böttcher schaudert zusammen, als er sich Wiegand zuwendet.

»Es ist fast zu schwer,« sagt er.

»Wir werden es schaffen«, entgegnet Wiegand.

»Wir müssen es schaffen«, setzt Lassehn hinzu.

Dann gehen sie die Treppen hinunter. Auf der Straße weht ihnen ein feiner, dünner Regen entgegen. Sie schla­gen die Mantel­kragen hoch und gehen in die zerstörte Straße hinein. An der Ecke hält gerade ein Laut­spre­cher­­wagen. Er verkündet die Kapitu­lation.

– Ende –

(1948 S. 703)


[…], taumeln Soldaten mit stumpfen Mienen und glanzlosen Augen zu den Sammel­stellen, gellen die Schreie der verge­wal­tig­ten Frauen aus den Häusern.

Dr. Böttcher schaudert zusammen, als er sich Wiegand zuwendet. »Es ist fast zu schwer,« sagt er. »Diese Schreie werden uns noch lange verfolgen …«

»Ach was!« fällt ihm Schröter ins Wort. »Du siehst zu schwarz.«

»Wäre zu schön, wenn es so wäre«, sagt Wiegand. Seine Miene drückt Skepsis aus.

Dann gehen sie die Treppen hinunter. Auf der Straße weht ihnen ein feiner, dünner Regen entgegen. Sie schlagen die Mantel­kragen hoch und gehen in die zerstörte Straße hinein. An der Ecke hält gerade ein Laut­sprecher­wagen. Er verkündet die Kapitulation.

(2015 S. 750)


Die Tendenz dieser Änderungen ist also völlig klar: Rein wollte 1980 (damals ist der Text der Be­ar­bei­tung zum ersten Mal gedruckt worden) die sowjetische Erobe­rung und Besatzung nicht mehr als Befreiung darstellen, er wollte nicht mehr zur Zusammen­arbeit mit den Sowjets aufgerufen haben und er hat mit ziemlich kleinen Re­tuschen sogar ausgedrückt, dass er von der Idee der Zusam­men­arbeit aller ›fort­schritt­lichen‹ Kräfte
ein­schließ­lich der Kom­munisten abgerückt ist.

Nur hat er damit, dass er diese ›Verbesserungen‹ nicht kenntlich gemacht und darüber keine Rechen­schaft abgelegt hat, seinen Text, der immer noch einen offen­sicht­lichen Anspruch auf historische Au­then­tizität er­hebt, schlicht gefälscht. So gut das Bild, das er nun von den Besatzern und Teilen der KPD malt, mit dem über­ein­stimmt, was man 1980 und heute so glaubt und zu wissen meint, so wenig scheint die Schilde­rung dieser neuen Züge von den eigenen Erlebnissen und früh gewonnenen Ein­sichten des Zeit­zeugen Rein gedeckt zu sein, denn sie steht zu dem, was er
damals gesagt hat, im Wider­spruch.

Klar, die Anspielungen auf Massen­ver­gewal­ti­gungen und Plünde­rungen werden kaum 1947/48 in der
Berliner Zeitung gestanden haben²; hätte sich dergleichen im Manu­skript befunden, wäre es in der Zei­tung ebenso wenig gedruckt worden wie im Buch, das mit Lizenz der Sowje­tischen Mili­tär­ad­ministra­tion erschienen ist. Kann man sich vorstellen, dass Rein 1945 bis 47 ein Manuskript geschrieben hat, das inhaltlich der Fassung von 1980 besser entsprochen hat? Schwerlich, denn dann hätte er es 1980 gesagt und nicht von ›Über­arbei­tung und Ver­bes­serung‹ gesprochen (oder sprechen lassen). Ein Buch, das Geschichte nach un­mittel­barer eigener An­schau­ung schildern und nach­er­leb­bar machen will, wird aber davon nicht besser, dass man die Ereignisse 35 Jahre später still­schwei­gend um­inter­pretiert und sich im Fak­tischen plötzlich besser erinnert.

Sieht man von der 1947 in die Zukunft weisenden politischen Bot­schaft ab (die damals freilich alles andere als neben­sächlich war), dürfte der Wert des Buches, der schon ganz wesentlich in der Ver­mittlung von Wissen und einem Wert­urteil besteht, gar nicht geschmälert sein: Auch wenn Rein seine Figuren oft und viel reden lässt, um Fakten über Kriegs­ereig­nisse, typisches Geschehen in Nazi­deutsch­land usw. anzu­­bringen, auch wenn er das doku­men­ta­rische Material spürbar um seiner selbst willen einstreut, bleibt sein Roman doch in dem Aspekt ›authentisch‹, dass er zeigt, wie Ge­schichts­buch­fakten bei Indi­viduen ›ankommen‹ und von ihnen ver­arbeitet werden.

Was Rein im Einzelnen über die Ereignisse sagt, fügt sich nun auch gut ins Bild, das viele andere Doku­mente und Zeugnisse zeichnen; gerade ›End­phase­ver­brechen‹ wie beispielsweise die Hatz auf tatsäch­liche und ver­meint­liche Deserteure (eigentlich ›Volks­genossen‹) sind in den letzten Jahr­zehnten minu­tiös rekonstruiert worden. Rein kommt 1980 nicht auf den Gedanken, die Nazis zu entlasten, sein eigener Text und die Quellen würden das unmöglich hergeben. Sein Buch steht in der Fassung seit 1980 in dieser Hinsicht aber nicht anders da als irgendein historischer Roman: Der Leser ist aufgefordert zu prüfen, was der Dichter ihm sagen will, ebenso wie er das mit dem Werk eines einzelnen Historikers machen müsste. Nur würde der es ihm mit den Belegen und dem An­mer­kungs­­apparat in mancher Hinsicht leichter machen.

So fragt sich noch, ob diese Aufgabe nicht vom Verlag hätte übernommen werden sollen. Eine in text­kritischer und histo­rischer Hinsicht sozusagen aus­kom­men­tierte Edition hätte ihre Reize, würde aber, zumal da man den Vor­ab­druck berück­sichtigen und nach dem Manu­skript suchen müsste, den Rahmen einer Roman­aus­gabe für Roman­leser sprengen (und sich der Form und des Preises halber wohl schlech­ter verkaufen … in diesem Jahr ist auch noch ein Ullstein-Taschen­buch erschienen …). Was Schöffling oder die Bücher­gilde aber sehr wohl hät­ten tun können, würde ungefähr dem entsprechen, was der Aufbau-Verlag bei der Neu­auf­lage von Falladas
Kleiner Mann – was nun? auf sich genommen hat: Man hätte 2015 die Ausgaben vergleichen sollen! Und danach hätte höchst­wahr­scheinlich alles dafür ge­spro­chen, die originale Buch­ausgabe wieder aufzulegen und die Be­arbei­­tungen von 1980 in Anmer­kungen zu ver­bannen. Falls das (sagen wir auf­grund einer testamen­tarischen Verfügung) nicht möglich gewesen wäre, hätte man der neuen Auflage von 2015 ein Nachwort beifügen müs­sen, das über den Charak­ter der Änderungen usw. informiert (zur Not halt nicht ganz so umfassend und gut, wie das Claus Gansel beim Kleinen Mann gemacht hat). Vielleicht bekommen wir irgend­wann doch eine halb­wegs ›kritische‹ Aus­gabe, die germanis­tische Literatur­wissen­schaft ist dazu ja durchaus imstande und auch zuständig, wenn Schneider Recht behält mit seinem Urteil: »Finale Berlin hat jetzt seinen festen Platz in der Ge­schichte der deutschen Literatur.« (FAZ-Rezension, 7.5.2015)

Ich bin froh darüber, das Buch gelesen zu haben, und auch darüber, dass ich über die un­schein­bare Angabe zu den Änderungen gestolpert und ihnen ein Stück weit nachgegangen bin. Beides war lehrreich.


¹ Die
Berliner Zeitung ist bis einschließlich Jg. 1993 digitalisiert und diese Jahrgänge sind über die Staats­biblio­thek zu Berlin – Preußischer Kultur­besitz online zugäng­lich (http://zefys.staatsbibliothek-berlin.de/ddr-presse/). Man kann so schnell feststellen, dass der Vorabdruck am 1. Januar 1947 schon die 70. Fort­setzung erreicht hatte. Bereits am 5. Oktober 1946 wird der Vorabdruck in einer Besprechung von Walter Lennig (Jg. 2, Nr. 233, S. 3) angekündigt, und zwar als am nächsten Tag beginnend. Die Besprechung enthält neben einer Charakte­risierung des Buches und seiner Absichten auch bio­gra­phische Angaben zu Rein, die den Wikipedia-Artikel ergänzen. – Damit ich meine Anmer­kungen zum Roman nun endlich ‚veröffent­lichen‘ kann, habe ich darauf verzichtet, auch nur in Stich­proben (abgesehen von der letzten Fort­setzung, s. An­merkung 2) zu untersuchen, ob oder wie Vor­abdruck und Buch­ausgabe von­einander ab­weichen (das würde Zeit brauchen, schon allein weil der Server der SBB-PK die Bilder der Zeitungs­seiten nicht gerade schnell ausliefert …).

² Der Schluss des Romans weicht in der letzten Folge des Vorabdrucks (
Berliner Zeitung, Jg. 3, Nr. 40, 16.2.1947, S. 3) sowohl von der ersten Buchausgabe als auch von der über­arbeiteten Fassung von 1980 ab: Zwischen der Szene, in der Wiegand dem ersten russischen Soldaten begegnet (2015 S. 743) und dem letzten Kapitel, das beim sowjetischen Militär­komman­danten spielt (»Der neue Anfang?«), fehlt das Kapitel »Das Ende«, in dem Rein – abseits des Handlungs­strangs, der die Erlebnisse der Protagonisten darstellt – die Kapitulation Berlins durch General Weidling schildert. In der Zeitungs­fassung treten im Schluss­kapitel nur Wiegand und Dr. Bött­cher dem sowjetischen Major gegenüber, weder von Lassehn noch von Schröter begleitet. Von kleineren Kor­rekturen stilistischer Art oder von schlichten Druck­fehlern abgesehen, fällt Folgendes auf: »An einem großen Tisch sitzt ein russischer Major, mit dem Rücken zum Fenster. Sein blondes Haar ist an den Schläfen angegraut, […]« (Berliner Zeitung)
»An einem großen Tisch sitzt ein russischer Major mit dem Rücken zum Fenster, sein dunkles Haar ist an den Schläfen angegraut, […]« (2015 S. 749) – Das Bild scheint etwas nach­ge­dunkelt … Natürlich fehlt auch der Zwischen­­ruf von Schröter, und der Satz »Die Rote Armee ist nicht als Feind des deutschen Volkes nach Berlin gekommen«, ist noch nicht getilgt (s. oben zu 1948 S. 702).
Der Absatz über den Blick aus dem Fenster (2015 S. 750f.) ist später deutlich länger als im Vor­ab­druck. Ur­sprüng­lich las man nicht: »Da liegt die große Stadt vor ihnen, nieder­gemäht von der Sense des Todes, aus­ge­löscht von der Brand­fackel des Krieges, zer­stampft von den Tritten der Heere, ein Orkan der Ver­nichtung hat nieder­geschlagen, was sich ihm ent­gegen­stellte, aber es ist noch ein Hauch von Atem in ihr, noch ist das Blut in ihren Adern nicht ganz erstarrt, noch ist der Wille ihrer Menschen nicht völlig gebrochen.« Schade, diese Bal­lung von kon­ventio­nellen Meta­phern zu Aller­welts­pathos hätte man in der ersten, vermutlich roheren Fas­sung viel leichter den noch auf­gewühlten Gefühlen des Autors zugute gehalten (mag sein, dass der Re­dakteur der Zeitung sie gestrichen hat). – Von den ›Schreien der ver­gewal­tigten Frauen‹ ist, wie zu erwarten, in der
Berliner Zeitung im Februar 1947 noch nicht die Rede.

° Man kann zum Vergleich ganz gut die ›überprüften Erinnerungen‹ ans Kriegs­ende in Berlin von Dieter E. Zimmer heranziehen. Zimmer, Jahrgang 1934, zwei Monate älter als mein Vater, (über)lebte (›wohnen‹ kann man das jeden­falls nicht mehr nennen) mit seinen Eltern in Steglitz, wo es anders als in Mitte kaum Kampf­hand­lungen gab. Sonst gibt es zwischen der Roman­hand­lung und den Kind­heits­erin­ne­run­gen viele Ähn­lich­keiten; auch Zimmer erwähnt bspw. die Sprengung des S-Bahn-Tunnels … Der zeitliche Orien­tie­rungs­verlust, das Schrumpfen der Welt auf die un­mit­tel­bare Nach­bar­schaft und Gegen­wart wird deutlich. Die Besetzung durch die russische Armee schildert Zimmer durchaus auch ambi­valent, aber nicht (nach ›Be­frei­ung‹ und ›Be­satzung‹) getrennt in zwei Fas­sun­gen, sein Klassen­stand­punkt (im sozio­lo­gischen Sinn, nicht in dem von SED-Propaganda) wird dennoch sicht­bar (auch wenn er be­streiten würde, dass es den gibt). Gründlich, wie der Mann ist, hat er versucht, die Chro­no­logie genau zu klären, und dazu weitere publi­zierte Tage­bücher etc. heran­gezogen, die er natür­lich auch genau angibt, so dass man die Recherchen weiter aus­dehnen kann. Sein Text kann auch unab­hängig von einer Über­prüfung von Reins Darstellung Interesse beanspruchen. (Wenn man seine Home­page dann schon besucht, sollte man sich un­be­dingt auch die Fotos ansehen, die er 1952/53 in Berlin gemacht hat …) [Nachtrag, 5.6.2020] [zurück: nach »RNZ« suchen!]

°° Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass Rein die Prophe­zeiun­gen der Nazi­pro­pa­ganda vom un­ver­meid­lichen Ost-West-Kon­flikt, vom ›Eiser­nen Vor­hang‹ und von der ›Ver­skla­vung‹ der Mittel­euro­päer in den 1940er Jahren für absurd hielt, 1980 aber zu viel Wahr­heit darin fand. Er wollte, meint man zu ver­stehen, als Anti­faschist, der er immer noch war, ver­meiden, dass Leser der 1980er Jahre den Nazis in diesen Punkten (ein biss­chen oder ein biss­chen zu viel) bei­pflich­ten würden. Kriegk, Ley und Goebbels wollte er immer noch nicht Recht geben, jeden­falls nicht explizit. [Nach­trag, 13.7.2022] [zurück: nach »RZ2« suchen!]

5. März 2017
Aus der Rubrik Gelesen und weggestellt:
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit, Frankfurt a. M.: Büchergilde, 2016 (OA Zürich 2016). – Statt einer Kurz­kritik sozusagen ein O-Ton, aus der »Danksagung« des Autors auf S. 355: »Bei diesem Buch möchte ich zuallerst meinen Eltern danken. Meinem Vater für seinen Humor und all die liebevollen, in­spi­rierenden Gespräche. Meiner Mutter für ihre Zähigkeit in schwierigen Phasen und ihren Glauben an mich. Sehr unterstützt hat mich auch U… B…. Welch ein Glück, sie als Lektorin zu haben. … P… K… gab mir für dieses Buch so viel Zeit, wie ich wollte. Sein Ver­trauen und sein unermüdlicher Einsatz bedeuten mir sehr viel. Ein lautes ›¡Muchas Gracias!‹ auch an alle an­de­ren bei Diogenes, … In Erinnerung an D… K…, der mich damals in seinen Verlag holte und so zu einem wich­tigen Wei­chen­stel­ler in meinem Leben wurde. So viel Schönes, was ich seitdem erleben durfte. Das kann und werde ich ihm nie vergessen.« – Wer nicht ver­steht, warum ich das abgeschrieben habe, dem könnte der Roman vielleicht ge­fal­len.
Patrick Modiano: Gräser der Nacht, aus dem Französischen von Elisabeth Edl, Frankfurt a.M.: Bücher­gilde, o. J. (EA der Übersetzung: München 2014, OA: L'herbe des nuits, Paris 2012). – Es wäre mir zu um­ständlich, den geschmäck­lerisch-überheblichen Umgang des Autors mit der franzö­si­schen Zeit­­geschichte und seinen arg von Paul Auster inspirierten Umgang mit dem Stadtplan von Paris zu charakterisieren. Melancholische oder bloß triste Rätsel­haftigkeit vor dem Hintergrund angeblich brüchiger, nichts­sagen­der Tatsachen (Straßen­namen zum Beispiel), vielleicht ist ein Mord passiert, vielleicht ist diese Frau, die man vielleicht liebt, die Schuldige oder mitschuldig, irgendwie verstrickt jedenfalls, wer weiß … was zählt, sind die Beziehungen zwischen Menschen … die ihre Identität aber nicht festhalten können (was nützen schon Pässe und Geburtsurkunden?), sie schließlich als Illusion erken­nen müssen.
»Fast hätte ich gefragt, warum sie ihm Rechenschaft schuldete, aber nach kurzer Überlegung erschien mir das zwecklos. Ich glaube, damals hatte ich schon begriffen, dass nie irgendwer auf Fragen ant­wor­tet.« (S. 69f.)
So ist das also. Schulterzucken (Ecke Rue de Rennes - Boulevard Raspail, von der Gare Mont­par­nasse kommend, vermutlich) …
Postmoderne, man kennt das, überdeutliche, ziemlich matte Postmoderne mittlerweile. Modiano wird in anderen Werken besser sein (obwohl schon Leute für sehr schlechte Werke Literatur-Nobel­preise be­kom­men haben, Pearl S. Buck zum Beispiel), auch dieser Roman mag in der Original­sprache seine Reize haben (womit ich ganz und gar nicht andeuten will, die Übersetzung sei schlecht), ich werde mir nicht die Mühe machen, es herauszufinden. – Kann aber gut sein, dass hier noch öfter vom Verhältnis der erzäh­lenden Literatur zur Geschichte (resp. Wirk­lich­keit) die Rede sein wird und ich dann auf diesen Typus zurück­kommen muss. In Modianos Roman, mit seinen massiven Bezugnahmen (Anspielungen kann man das nicht mehr nennen) auf die Affäre Ben Barka – Elisabeth Edl teilt dem deutschen Leser in einer knappen Nach­bemerkung sinn­voller­weise mit (besten Dank!), dass ein Fran­zose bei den dargestellten Vorgängen unweigerlich an diese berühmte Geschichte denken muss, die den Hauch des Mysteriösen mitbringt –, ist dieser Typus vielleicht sogar markant ausgeprägt. (puh, das wird an­stren­gend)

10. Februar 2017
Janwillem van de Wetering: Massaker in Maine, deutsch von Hubert Deymann, Reinbek 1993, OA 1979 (aus dem Büchertauschschrank auf dem Neumarkt in der Mannheimer Neckarstadt West, gelobt sei die Einrichtung!)
Ist van de Wetering (1931-2008) völlig vergessen? Der Krimibuchmarkt ist schnelllebig (denke ich mir), Zen-Buddhismus gerade nicht besonders en vogue – und so schlimm wäre es auch nicht, van de Wetering hat den Kriminalroman nicht auf neue Höhen gehoben (seine van-Gulik-Bio­gra­phie ist auch nicht beson­ders). Manche Züge sind trotzdem noch modern, da ist das Interesse für das Privatleben(, die Gour­man­dise) und die geistige Entwicklung der Detektive, die sich nicht immer leidenschaftlich für ihre Fälle inter­essieren, außerdem die Nutzung des Reihen­charakters für eben diese Entwicklung  … Letzteres hat er von seinem größeren Lands­mann doch gelernt.
     Noch in den 80ern war van de Wetering in linksliberalen Deutschlehrerkreisen (das ist kein Pleo­nas­mus, ich habe ein bayerisches Gymnasium besucht) und so ziemlich IN, ist mir damals aber eigentlich immer auf den Wecker gegangen mit seiner Zen-Amoralität (ausgerechnet im Krimi), dem zugehörigen leichten Erleuchtungs­dünkel und den unvermeidlichen antideutschen Seitenhieben (die man den Hollän­dern natürlich nicht 'mal übelnehmen konnte).
Massaker in Maine fand ich jetzt richtig gut lesbar, obwohl gar kein Massaker stattfindet, sondern eine Reihe von teilweise länger zurückliegenden Todesfällen auf­zuklären ist, eigentlich von einem wasch­(bär)­echten amerikanischen Sheriff (ich erkenne sogar eine ge­wisse Verwandt­schaft mit Sheriff Bell aus No Country for Old Men), in dessen County aber zwei Beamte der Amster­damer Kriminal­polizei hereingeschneit kommen (zusammen mit reichlich richtigem Schnee). Die Situation gibt dem Autor Gelegenheit, interessantes Personal einzuführen, ein paar europäisch-ame­ri­ka­nische Unterschiede und Gemeinsamkeiten zu studieren – und in Gestalt einer undurchsichtigen Bande von jungen Leuten mit buddhistischem Existentialismus (oder um­ge­kehrt) zu experimentieren.
     Diesmal kommt statt eines unsympathischen Deutschen ein Schwächling von amerkanischem Nazi vor. Der Anführer der Bande spielt ein wenig mit ihm, weil er etwas über richtige Über­menschen lernen will; klar, der brau­ne Spinner ist eine Enttäuschung, für die Suche nach dem Über­menschen­tum hat aber auch der Amster­damer Commissaris Verständnis. Er fragt den Bandenchef nach Reue* (weil er ein Banden­mit­glied in ein Ex­periment mit tödlichem Ausgang geführt hat). »Überhaupt keine Gefühle?« »Wenn ich welche habe, dann sind es gute Gefühle.« (S. 172f.) – Leute, die sich mit so einer Haltung irgendwelchen armen Socken, die sich mit ganz unguten Gefühlen und glücklos abstrampeln, überlegen fühlen, bringen mich schnell zur Weißglut. Das ist nicht gut im Über­lebens­kampf da draußen im endzeitlichen alten Euro­pa; speziell wenn man auf
die Sorte trifft, muss man ganz ent­spannt sein – Brigadier Rinus de Gier gibt bei einem anderen kleinen Spielchen dieser talentierten jungen Leute selbst ein gelungenes Beispiel … Ok, so ein Buch ist schon brauchbar beim un­blu­ti­gen Experimentieren (in mei­nem alten Jugendzentrum pflegten ein paar Leute ›Hirnwichsen‹ zu sagen), mit dem wir ja nicht aufhören wollen, bloß weil wir aus dem Alter, in dem uns das lässig gut steht, längst raus sind.
     PS: Van de Wetering gelingt eine ganz hübsche Verpflanzung des taoistischen Einsiedlers Meister Kra­nich­tracht aus van Guliks
Mord im Labyrinth auf eine kleine Insel an der amerika­nischen Nordost­küste. – Aber Richter Di, zehn­tausend Jahre möge er leben, erliegt nicht der Faszination der inneren Leere!

*
Nachtrag, 20.12.2017: Wenn man die Fähigkeit, Reue zu empfinden, nicht für eine Grundlage von Moral hält, lehnt man noch nicht Moral überhaupt ab (und das wollte ich van de Wetering auch nicht vorwerfen). Die­sen Monat habe ich aus besagtem öffentlichen Bücherschrank seine Story­sammlung Inspektor Saitos kleine Er­leuch­tung (Rein­bek 1986, Originaltitel: Inspector Saito's Small Satori) herausgeholt. Die Titelfigur wird in diesen Geschichten vor schwierige Aufgaben gestellt, die moralische Entscheidungen verlangen. An Saitos Integrität wird man nichts aus­zusetzen haben. Mir scheint bloß, dass die Gerech­tig­keits­prin­zipien, nach denen er han­delt, mit den buddhis­tischen Lehren, die er empfängt, nichts zu tun haben – bis auf den einen Punkt, dass Saito nämlich ein un­er­schüt­ter­li­ches Selbst­bewusst­sein entwickelt, auch Fragen von Leben und Tod aus sich allein beantworten zu können. Weder die Grundsätze noch ihre Anwendung auf die Fälle erfordern auch nur diskur­sive Überprüfung. Nachdenken führt – das schärft der weise Onkel dem jungen Kriminalisten ein – vom We­sent­lichen ab. Aber da hat der Onkel, mag er tiefsten inneren Frieden gefunden haben, Unrecht, und wenn er noch so schöne Gleichnisse erfindet, um expliziten Fragen aus dem Weg zu gehen.

24. Oktober 2016
Die Privatsphäre der Literaten – Über ein Interview mit Fritz J. Raddatz (2014), Literatur-Journa­lis­mus und vielleicht auch über guten Geschmack
Jeder, der Umgang mit einem Schriftsteller hat, riskiert, dass er Stoff zu dessen Werk wird. Thomas Mann war berüchtigt dafür und hat Kollegen und Kritiker keineswegs verschont – der Habitus und Eigenheiten von Ger­hard Hauptmann und Georg Lukács zieren Figuren des
Zauber­bergs. Erreicht der Literat eine ge­wisse Be­rühmt­heit, trifft es früher oder später auch Personen, die bloß in seine Tagebücher Eingang ge­funden haben. Eben­so­wenig sicher sind die Brief­partner oder die in Briefen erwähnten; unter dem Vor­wand der philo­lo­gi­schen Redlichkeit wird auch von Nach­lass­heraus­gebern ungekürzt alles der Öffent­lich­keit preis­gegeben, spä­testens wenn die Betrof­fenen tot sind und sich nicht mehr sträuben können.
    Es gibt ein Interesse am Privatleben von berühmten Menschen, auch an dem von berühmten Dichtern, das ungefähr in dem Maß, in dem Künstler überhaupt einen Namen haben, von der Literatur auch be­frie­digt wird (das eine ist vom anderen ja nicht unabhängig): Über das Leben der Urheber des Nibelungen­lieds wissen wir nichts, weil wir die gar nicht kennen; aber Walter hat selbst seine Freude und Erleich­te­rung über seine endlich erreichte Versorgung zum Gedicht gemacht (»Ich hân mîn lêhen«) und darin auch gleich gesagt, was das mit seinem Dichten zu tun hat: Arm war er »sô voller scheltens daz mîn âten stanc«, nun glaubt er endlich wieder rein und ohne Bitterkeit singen zu können. Das kleine Dank- und Erleich­terungs­gedicht ist nicht sein schlech­testes.
    Peter Rühmkorf hat ganz gewiss das lyrische Ich auch nicht säuberlich vom Personal­pronomen, das auf den Sprecher verweist, getrennt. »I c h? – halt mich straight an die zentral von mir Ergriffnen   und hab schon manchem Strick­strumpf beigelegen   nur seines über­sinn­lichen Gehaltes wegen.    Wahrlich, so war ich – – – (nix Ent­hüllung!) –«.
    Etwas anderes ist es aber schon, wenn ein Journalist Gespräche mit der Frau des mit ihm be­freun­deten Dich­ters verwertet, veröffentlicht, in Interviews darüber spricht. In seinen Tage­büchern hat Raddatz (offen­bar, ich habe die veröffentlichte Version ebenso wenig gelesen wie die ur­sprüng­liche) Persön­lichs­tes, intimste Details nicht nur von sich notiert. Dazu kann ein Tagebuch da sein. Wenn man so ein Tage­buch zu eigenen Lebzeiten drucken lässt, muss man über eine gehörige Portion Narzissmus und Eitelkeit verfügen. Von einer Figur des Literatur­betriebs, die sich einige Jahrzehnte lang immer wieder bemerkbar gemacht hat, wird man vermuten können, dass sie mit diesen Gaben einigermaßen reichlich gesegnet ist. Erweist der Literat, der wenigstens auch Literatur­kritiker ist, der Literatur damit (ich spreche über ein imagi­niertes Raddatz-Tagebuch, das ich mir nach dem Interview zusammenreime, auf das ich noch zu sprechen komme) einen Dienst?
    Das ist keine rhetorische Frage, denn wer gedruckte Tage­bücher dieses Kritikers liest, wird
irgendein Inter­esse an der deutschen Literatur der letzten 60 Jahre haben. Und er wird bei der Lektüre auf Namen stoßen, die er vielleicht noch nicht kennt, oder er wird an Autoren erinnert werden oder sie irgendwie in neuem Licht sehen. Wenn man für Literatur Werbung machen könnte wie für andere Artikel auch (und wenn man für irgend­welche Artikel Reklame machen sollte), dann könnte ein erfolgreiches Buch – selbst voller Tratsch – so funktionieren und alles wäre ziemlich gut.
    Aber so ist es nicht. Außer wenn man dafür bezahlt wird und anders seinen Lebens­unterhalt nicht zu fristen vermag, sollte man natürlich keinesfalls für schlechte Literatur Reklame machen. Davon gibt es viel zu viel und wenn sie nicht als solche erkannt wird, hält sie von der Lektüre guter Literatur ab. Und weil es schon viel Rekla­me für schlechte Literatur gibt, wäre es besonders er­freu­lich, wenn Leute, die etwas davon verstehen und nicht gezwungen sind, Werbung zu machen, in ihren Veröffentlichungen über gute und schlechte Literatur und die Unterschiede reden würden. Ein Mann, der allerhand gelesen und erlebt hat, der es nicht mehr nötig hat, Be­zie­­hungs­­rück­­sichten zu nehmen (und das auch nicht tut), dem man also sozusagen in positiver wie negativer Hinsicht ein reifes Urteil zutrauen würde, sollte das tun.
    Nun hat ein sehr eitler, in seiner Selbstliebe mannigfach und von vielen gekränkter alter Mann auch andere Bedürfnisse; einige davon befriedigt er offenbar durch die Publikation eines Textes, in dem er auf Tote gar keine und auf Lebende nur die vom Gesetz gebotene Rücksicht nimmt. Das sind keine Motive, die vorab sehr für das Buch einnehmen, aber trotzdem kann es selbst gute Literatur sein, das ist immer­hin möglich. Darüber kann ich nicht urteilen, ich hab's nicht gelesen.
    Ich nehme mir stattdessen ein immer noch und leicht zugängliches Interview mit Raddatz anlässlich des Erscheinens seiner
Tagebücher 2002-2012 vor, das 2014 von Sven Michaelsen (mir anderweitig nicht bekannt) fürs »SZ-Magazin« geführt wurde (im Wikipedia-Artikel zu Raddatz gibt es in der ersten Fußnote einen Link darauf). Die beiden sprechen anfangs über Sex und Familie, R. nimmt wahrlich kein Blatt vor den Mund; man kann davon halten was man will (ich kann dieser Art von Offenheit etwas abgewinnen, über meine Gründe vielleicht ein andermal), die Literatur als Kunst ist davon sozusagen nicht betroffen. Michaelsen bringt dann den ersten Namen ins Spiel, den einer ehemals mit R. befreundeten Promi­nen­ten, einer noch lebenden Kunst­mäzenin. Der bekannte Name gibt der kleinen Geschichte eine zusätzliche (Maggi™-)Würze, das ist alles.
    Dann geht es um persönliche Beziehungen zwischen dem Kritiker und dem von ihm bespro­chenen Schrift­steller, erst einmal um Günter Grass. Der war mit R. lange befreundet und dann haben sie ange­fangen, über einander sehr uncharmante Dinge zu sagen. R. rechtfertigt im Interview einen Vergleich, in dem es um die dichterische und männliche Potenz geht, so: »Da Grass in einem übrigens scheußlichen Gedicht selber ge­schrieben hat: ›Er steht mir noch, aber nicht so oft‹, darf ich so etwas schreiben. Es ist nun mal so, dass In­diskre­tion zum Wesen eines Tagebuchs gehören. Ich bin ja auch mir selber gegenüber indiskret.« Das ist sehr schwach, denn ein Tagebuch ist etwas anderes als ein gedrucktes Tagebuch und sich selbst gegenüber kann man nicht indiskret sein. Weil der Interviewer das Thema der Indiskretion vertieft, bleibt es nicht bei diesen Ausflüchten. R. notiert und publiziert ein Gespräch mit Rühmkorfs Frau Eva über (sagen wir) die Gestalt eines anatomischen Details an privater Stelle nach einer schweren Ope­ra­tion an Rühmkorf. R. sagt dazu: »Ich habe lange überlegt, soll ich das weglassen? Ich hätte es weg­gelas­sen, wenn Eva noch lebte. Jetzt ist es Literatur­geschichte – als würden die Brüder Goncourt etwas über den Schwanz von Balzac schreiben.« Käme der Schwanz Balzacs wunder­licher­weise in den Tagebüchern der Goncourts vor, wäre das vielleicht schon Literatur­geschichte, aber das läge an diesen Tage­büchern und nicht daran, dass es Balzacs Organ (und dieser tot) war. Nur wenn R. von der Prämisse ausgeht, seine Tagebücher hätten vergleichbaren literarischen Rang, taugt sein Argument irgendetwas. R. hängt die Latte ziemlich hoch.
    Und im Interview geht es damit immer noch nicht um Literatur: Die literarische Qualität des R.schen Tage­buchs wird nicht zum Thema (darüber wäre mit ihm wohl schwer zu reden gewesen und es gibt ja genug stoffliche Reize …). Michaelsen meint den Lesern und R. mitteilen zu müssen: »Künstler von Rang, das gehört zu ihrer Natur, sind monströse Total­ego­zentriker.« Ja? Ist selbst ein bekannter Ego­zentriker wie Thomas Mann gleich ein solcher? Joyce? Goethe? Byron? Gide? Camus? … Soll die Phrase nicht bloß die Indis­kretion decken? ›Die Künstler sind alle so, zur Freund­schaft und Loyalität unfähig; in dieser Sphäre ist Diskretion absurd, sie selbst haben gar kein Organ dafür.‹ Und selbst wenn's so wäre, was ist mit den Retour­­kutschen gewonnen?
    R. erwähnt noch eine von Hubert Fichte (ausweislich einer indiskreten Publikation) nicht ganz erwiderte Freundschaft, obwohl man zusammen sehr Privates (R. belässt es nicht bei einer Andeutung) unter­nom­men hatte. – Fichtes Namen habe ich schon lange nicht mehr gelesen; allzu viele Jüngere werden ihn nicht kennen. Wird diese Erwähnung jemanden veranlassen, mehr über ihn zu lesen und sich dann vielleicht eines der (immerhin lieferbaren) Werke zuzulegen (die nach meiner Erinnerung gut sind)? Ich kann's nicht glauben. Ein Schrift­steller wird nicht einmal inter­essant, bloß weil man erfährt, dass er mit einem be­kann­ten Kritiker ge­meinsam ein spezielles Haus besucht haben soll.
    Im zweiten Teil des Interviews gibt es scharf­sinnige und in gutem Sinn schonungs­lose Bemer­kungen von R. über das Alter. Die oder ähnliche lese man beizeiten (zumal wenn man sich selbst nicht frei von Narziss­mus wähnt) und bereite sich vor! Aber für die Literatur ist nichts getan worden, nicht für Lyrik und Roman und nicht einmal für autobiographisches Schreiben. Es wurde bloß Reklame für eine Neu­er­schei­nung aus dem Hause Raddatz getrieben. Von den Kollegen vom SZ-Magazin.
    Und über das Verhältnis des auto­bio­gra­phischen, intimen Stoffs zur Literatur, die Kunst ist, haben wir nichts erfahren. Wir wissen immer noch nicht genau, warum die Brüder Goncourt Balzacs Schwanz
nicht erwähnt haben.

16. Oktober 2016
Eine kleine Zwischenbemerkung über einen Büchermenschen:
Fritz J. Raddatz (1931-2015) war in den 80ern noch der Literaturgegenpapst und jedenfalls ziemlich omnipräsent im Literatur­betrieb. Obwohl ihn ein Deutsch­­lehrer, den ich schätzte, hochhielt, war er mir eher suspekt, jeden­falls un­sympa­thisch (wahr­scheinlich ziem­lich grundlos, so reagierte man damals als auf­müpfi­ger Schüler halt auf das, was die Leh­rer gut fanden …).  Zu dem Buch von Heinz Rein, zu dem ich noch etwas sagen werde, hat er (relativ kurz vor seinem Freitod) ein Nach­wort geschrieben, das ich mit Gewinn gelesen habe. Über die ziemlich dürf­tige Wikipedia-Seite (die mal wieder nur den Raddatz der Internet-Epoche kennt) bin ich auf ein spätes Interview (vom Januar 2015) gestoßen, das Arno Widmann mit ihm anlässlich des Erscheinens seines letzten Buches für die »Frankfurter Rundschau« geführt hat. (Für die, seinerzeit noch ernst­hafte Kon­kur­renz einer anderen über­regio­nalen Zeitung aus derselben Stadt, hat auch besagter Deutsch­lehrer in jungen Jahren Buch­be­spre­chungen geschrieben …). Und das zeigt ihn als ziemlich un­spießigen Mann, dessen Urteile über Literatur ganz gute Weg­weiser sein könnten (und von dem man ganz bestimmt etwas lernen könnte, wenn man ernsthaft über Literatur urteilen wollte). [Über ein anderes Interview, das einen anderen Raddatz zeigt, s.o.]

 16. Oktober 2016
Jonathan Franzen: The Corrections, London 2010 (EA 2001)
Über Jonathan Franzens
Corrections ist schon viel geschrieben worden (das schließe ich aus den vielen Zitaten aus Bespre­chungen, mit denen der Verlag die Taschen­buch­ausgabe ziert); alle Leute, mit denen ich darüber geredet habe, waren einhellig der Meinung, dass es sich um große Literatur handelt. Als Roman einer Familie ist er unter anderem mit den Buddenbrooks verglichen worden und das finde ich als Anzeige des Kalibers, mit dem man es hier zu tun hat, ganz passend. In seiner klassischen Erzählweise – die Geschichte wird von einem reifen Punkt ihrer Entwicklung aus chronologisch verfolgt und die Vor­geschichte wird peu à peu aus der Perspektive jedes Familien­mit­glieds in Rückschauen und Erinne­run­gen nachgeholt – und der dichten Verknüpfung seiner Motive ist er sicher ein lohnendes Unter­suchungs­objekt in literaturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen über den Roman des 19., 20. und 21. Jahr­hun­derts. Aber auch ohne ein­gehende Analyse der handwerklichen Qualitäten des Werks stellt sich dem mehr oder weniger naiven Leser (der sich von der Erzählung einfach hat mitreißen lassen) die Frage, was den Nach­druck erzeugt, mit dem sich Stoff und Figuren in seinen Gedanken festsetzen und danach ver­langen ›verstanden‹ zu werden. Das soll natürlich nicht heißen, dass diese Wirkung ohne die einzelnen künstlerischen Qualitäten verständlich wäre – möglicherweise ist es nicht nur gewagt, sondern schlech­ter­dings falsch, von der Gesamtwirkung auf ein bestimmtes Individuum aus­zugehen, wenn man wirk­lich etwas über den Roman sagen will.
    Solange man sich in solchen Fragen nicht einer bestimmten Methode verschworen hat, kommt es aber auf den Versuch an … Sehen wir uns wenigstens genauer an, wie der Roman seiner Er­kennt­nis­funktion (bei mindestens einem Leser) gerecht wird, wie er Allgemeines im Konkreten sagt, wie er durch die Fiktion Wirklichkeit erkennbar werden lässt.
Was mich beschäftigt, ist der eigentümliche Eindruck von Totalität, den der Roman hinterlässt. Obwohl kein olympischer Erzähler den Globus überschaut und das Weltgeschehen kommentiert, meint man, die Gegenwart als Ganze in wesentlichen Zügen dargestellt zu sehen. Wie kommt das zustande, wenn ein Autor eine Kernfamilie des amerikanischen mittleren Westens erfindet, die von den durchaus indivi­du­ellen und besonderen Lebensumständen der Elterngeneration geprägt ist?
    Ich sehe drei Elemente, die der Geschichte ihren repräsentativen Charakter verleihen. Das erste ist sozusagen geographisch und zeigt auch gleich, dass wir es mit einer ›wahrgenommenen‹ Totalität, nicht mit einer perspektivenfreien zu tun haben: Die Lamberts sind eine amerikanische Familie, sie leben teils im Westen, teils an der Ostküste, sie sind geprägt von der amerikanischen Zivilisation des 20. Jahr­hun­derts, von der materiellen und ideellen Kultur der Vereinigten Staaten. Also von jener Kultur, die mindes­tens seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auch die Entwicklung in Europa geprägt hat und die nirgend­wo auf dem Globus ohne spürbaren Einfluss geblieben sein dürfte. Auf diese Weise ist die gesamte amerikanische Gegenwartsliteratur in einem Maß für den Rest der Welt relevant, wie das deutsche oder japanische oder lateinamerikanische Literatur nicht ist. Das hat durchaus mit den Vermarktungs­strate­gien eines globalisierten Verlagswesens zu tun, aber nicht in dem eindimensionalen Sinn, dass eine amerikanische Kulturindustrie ›uns‹ an amerikanische Konfektionsware gewöhnt hätte. Die Resonanz von US-Literatur beruht natürlich auch auf dem Siegeszug des Englischen, ist vorbereitet von Hollywood, wird massiv befördert von der Werbung für amerikanische Erfolgstitel und -autoren usw. Sie wurzelt aber (was realistische Romane wie
The Corrections angeht) auch tiefer in der Vergleichbarkeit der Lebens­weisen in der sogenannten westlichen Welt (die es in diesem Sinne halt gibt). Auch der mitt­lere Westen wirkt auf einen deutschen Leser nicht ohne weiteres exotisch, er versteht die Lebens­fragen, die sich dort stellen, ohne weiteres.
  Man könnte dieses geographische Moment wohl ausdifferenzieren und meinetwegen einen ethnischen Aspekt beschreiben. Mir scheint aber die vom Autor gewählte (falls er da eine Wahl hatte) soziale Stel­lung seiner Protagonisten wichtiger zu sein. Die Lamberts gehören der auf­stiegs­orientierten Mittel­schicht an, sie sind jedenfalls Kleinbürger wie die meisten Leser des Romans auch. Der lange ziemlich rätselhaft blei­bende, nur aus der von ihm selbst erzeugten Distanz geschilderte alte Alfred Lambert war Ingenieur bei einer regio­nalen Eisen­bahn­gesell­schaft mit gewissen Karriere­chancen, die er nicht wahr­genommen hat. Er besitzt ein an Wert verlieren­des Haus in einem Umfeld, das von Nachbarn geprägt ist, die ihre Schäf­chen mit mehr Energie ins Trockene gebracht haben (statt nur sehr sorgfältig und der Firma gegen­über loyal ihre Arbeit zu tun). Seine Frau möchte eindeutiger dazugehören … Ein paar kleine Stufen höher oder tiefer auf der Leiter gibt es diese Konstellation in jeder ›normalen‹ Nachbarschaft, in den Eltern­häu­sern jeder Schulklasse, in jedem Verwandten­kreis, sei es in einer ungarischen Provinz­stadt, in einem Pariser Wohn­viertel, in einer Vorort­gemeinde von Tokio. Die Kinder werden auf möglichst gute Schulen geschickt, sie sollen studieren und – ohne sich von der elter­lichen Sphäre zu weit zu ent­fernen – möglichst weiter aufsteigen. Franzen situiert seine Figuren nicht nur genau, was ihre soziale Lage angeht, er kon­tras­tiert die Lamberts in dieser Hinsicht auch mit einer Familie, in der die Frau aus einem einst prole­ta­ri­schen Milieu kommt und der Mann eher Ober­schicht-Gewohn­heiten hat (und er lässt diese Ehe auch an dieser Kluft scheitern).
    Eine solche soziale Lage ist für die Masse der Leser so unexotisch wie die Ein­familien­haus­sied­lung, in der die Lamberts leben, oder die Küchen­ausstat­tung der Hausfrau. Aber es sind gerade nicht nur die typi­schen Ele­mente der Lebens­weise der Lamberts, sondern auch die ganz ein­maligen Umstände, die das Familien­schicksal repräsentativ machen: Sie liegen sozusagen in einem Wahr­schein­lich­keits­raum, den der Autor sorgfältig ab­ge­steckt hat und für den die Klassen­zu­gehörig­keit (um das garstige alt­mo­dische Wort zu gebrauchen) eine deter­minierende Größe ist.
Damit ist noch kein Element gezeigt, dass die Handlung in irgendeiner positiven Weise be­stim­men und voran­treiben würde. Wie kommt eine dynamische Struktur in diese Lage? Franzen nutzt zum einen (das kommt mir ziemlich modern vor) den alters­bedingten Krank­heits­verlauf bei Alfred: Seine zunehmende Demenz verändert die Familien­kon­stel­lation, ist immer schwerer zu ignorieren, stellt die anderen Fami­lien­­mit­glieder vor wach­sende Heraus­for­de­rungen.
    Die Gesetzmäßigkeit der Reaktionen auf diesen Demenz­verlauf innerhalb der Familie und darüber hinaus der individuellen Geschichte der Kinder ist bei Franzen aber unverkennbar vom Wesen der Klein­familie selbst geprägt. Die Familienstruktur verknüpft die Lebens­geschichten keineswegs bloß äußerlich, indem sie sozu­sagen eine Verzahnung der Biografien erzeugt. Franzen lässt stattdessen die Charaktere (nämlich die tief ver­wurzelten Verhaltens­muster) der er­wachse­nen Kinder aus den familiären Rollen­vertei­lungen hervorgehen. Mir scheint darin ein mehr oder weniger freudianisches Element zu liegen, auch wenn Franzen natürlich nicht lehr­buch­mäßig nach der Freudschen Neurosen­lehre vorgeht oder der­glei­chen. Wahrscheinlich ist der Autor gar nicht von einer solchen Theorie abhängig (das sollte man sich aber genauer ansehen); aber diese Ableitung überhaupt ist ein sehr klassischer Zug seines Werks. Darin liegt, wie mir scheint, die stärkste Basis dafür, dass das Roman­geschehen von ›jedem‹ Zeit­genossen mit­erlebt werden kann: Jeder in einer Klein­familie Auf­ge­wachsene interpretiert das Verhalten seiner Eltern neu, wenn sie alt und schwach werden, jeder fragt sich (oder muss sich fragen), was von seinen Schwächen und Empfind­lichkeiten nur Reaktion auf Wünsche und Erwartungen von Vater und Mutter ist, jeder ent­deckt im Lauf der Zeit Ähnlich­keiten mit den Eltern an sich, die er sich ungern ein­gesteht, jeder wundert sich darüber, warum er im Kreis der Familie so schnell in alte Ver­hal­tens­weisen zurückfällt, warum er mit Eigenheiten von Familienmitgliedern so wenig Geduld hat, zweifelt, ob es sich lohnt, einiges von dem Un­gesagten nach Jahrzehnten noch zur Sprache zu bringen … (Man muss das viel­leicht auf die Genera­tionen derjenigen einschränken, die um 2000 mindestens dreißig Jahre alt waren und typischerweise die Puber­tät als Zeit des Konflikts erlebt haben. Franzen thema­tisiert, dass in der Mittelschicht viele jüngere Men­schen die eigenen Eltern kontinuierlich als Freunde zu erleben scheinen – das ist für Kinder­lose, die solche Leute etwa als Studenten kennenlernen, sehr exotisch, und seine Geschichte bestärkt unser Miss­trauen gegen­über derartiger Harmonie!)
    Franzen legt sich nicht fest, auf welche Weise genau sich Alfreds Zwanghaftigkeit und Furcht vor der eigenen Emotionalität bei den Kindern auswirkt oder Enids Konformismus und Unfähigkeit, eine Sache um ihrer selbst Willen zu schätzen. Die Einsicht seines Erzählers geht explizit nicht weiter als die der Fi­guren. Die aber werden durch das Schwinden der Kräfte, die die Bilder vom Selbst und von den anderen aufrecht erhalten, zu mancher Selbst­erkenntnis unsanft an­ge­sto­ßen. Und die verhohlene Sympathie, jedenfalls das Interesse des Erzählers liegt dann doch mehr bei denen, die sich davor nicht drücken wollen. Franzen selbst scheint es weder mit dem (glück­licher­weise schon wieder aus der Mode gekom­menen) post­modernen Mysti­zismus noch mit der rein physio­logischen Interpretation der eigenen Seelen­vorgänge zu halten, die gegenwärtig von den Bio­wissen­schaften in die Alltagsweltanschauung absinkt.
    Das tut dem Roman gut – in den Augen eines Lesers, der ebenfalls aus einer Familie mit drei Kindern (zwei Jungs, einem Mädchen) kommt, der in einem Elternteil der Lamberts ein eigenes fast schmerzlich wieder­erkennt und sich nicht zuletzt deshalb wieder einmal vornimmt, bei der Familienfeier an Weih­nachten nicht nur die Gans zu loben, sondern auch mehr Verständnis zu zeigen, ohne jedem Konflikt aus dem Weg zu gehen. Wenn's denn möglich ist.
   Franzens
Corrections bringen etwas zur Darstellung, was mit dem Kern der westlichen Zivilisation in ihrem gegenwärtigen Entwicklungsstadium (die Gegenwärtigkeit des Buches wäre ein anderes Thema …) zu tun hat. Weil seine Mittel diesem Stoff gewachsen sind, wird es viele Leser geben, die ihre höchst eigenen Angelegen­heiten im Buch verhandelt finden werden. Und die daraus mehr darüber lernen werden. Und daher ist das ein Roman, dem man viele Leser wünscht.

22. September 2016
Notizen aus dem Vernichtungskrieg. Die Ostfront 1941/42 in den Aufzeichnungen des Generals Heinrici, hrsg. von Johannes Hürter, Darmstadt 2016 (Eine Publikation des Instituts für Zeitgeschichte, München – Berlin)
Gotthard Heinrici war als Kommandierender General des XXXXIII. Armeekorps am Angriff auf die Sowjet­union und speziell an wichtiger Stelle an der Schlacht um Moskau im Herbst und Winter 1941/42 betei­ligt. Auf diesen Zeit­raum konzentriert sich die von Johannes Hürter edierte Auswahl aus dessen Auf­zeich­nun­gen. Heinrici war, wie Hürter in seiner von souveräner Sachkenntnis zeugenden Einführung heraus­arbei­tet, ein »ganz normaler Wehr­machts­general«. Er hatte als Offizier bereits am ersten Welt­krieg teil­ge­nom­men und sein Weltbild wurde durch die Niederlage von 1918 nachhaltig erschüttert. Bei einigen Vor­be­halten hat er sich willig (und mit Stolz auf die da­durch beförderte eigene Karriere) an der Auf­rüs­tung und den Kriegsvorbereitungen der Nazis be­tei­ligt und sich schließlich mit einer gewissen beruflichen Be­geis­te­rung in dem verbrecherischen Angriffs­krieg gebrauchen lassen.
     Dabei war Heinrici alles andere als ein brutaler Unmensch: Um seine Untergebenen kümmert er sich sehr enga­giert, er nimmt während des Feldzugs selbst immer größere Strapazen in Kauf und orientiert sich buch­stäblich an vorderster Front nicht nur über die militärische Lage, sondern auch über die Ver­sorgung und den Gesund­heits­zustand seiner Leute. Zudem ist er von einer pietistischen Frömmigkeit geprägt – er bringt es fertig, in Momenten drohender Niederlagen und Katastrophen, seinen Gott um Schutz und Hilfe anzurufen und sein Schicksal in des­sen Hände zu legen. Dass er tief in einen Ver­nich­tungskrieg verwickelt ist, ist ihm durchaus bewusst, zeitweise widersetzt er sich auf dem Rückzug sogar punktuell der Strategie der ›Verbrann­ten Erde‹, weil er erkennt, dass sich das Reich damit um die letzten Sympathien antisowjetischer Bewohner bringt. Aber er ist weit davon entfernt, etwa in der ›Partisanen­bekämpfung‹ auch nur die Einhaltung des Kriegs­rechts durchzusetzen. (Es gehört zu den verstö­rends­ten Teilen seines Berichts, wenn man liest, dass sein Übersetzer, ein Königsberger Univer­sitäts­dozent für Landwirtschaft, aus eigenem Antrieb durchs Hinterland streift, um ver­meintliche Parti­sanen aufzu­spü­ren, die er dann selbstherrlich aufhängen lässt; sogar in Sicht­weite von Heinricis Unterkunft, der aller­dings beim Früh­stück nicht durchs Fenster auf Hingerichtete blicken möchte …)
     Die Tagebucheinträge, Briefe und Berichte an die Familie aus dieser Zeit sind vollständig abgedruckt, eine Aus­wahl von autobiographischem Material aus der Zeit davor (u.a. Besatzung in Frankreich) und danach (bis zum endgültigen Zusammenbruch – Heinrici hat sehr lange ›das Vertrauen des Führers‹ ge­nos­sen!) rundet das Bild ausgezeichnet ab.
     Wie in keinem anderen Buch bisher wird mir aus diesem klar, wie sich der Krieg im Osten sowohl an der eigent­­lichen Front als auch im strategischen Maßstab abgespielt hat – Heinricis mittlere Perspektive scheint dafür ideal zu sein. Jemandem, dem die Verwirklichung von Moralität nicht gleichgültig ist, stellt das Buch we­sentliche Fra­gen: Wieso kann sich ein religiöser Mensch, der, wenn man ihn fragen würde, die zentralen Ge­bo­te des Christen­tums selbstverständlich als bindend anerkennte, ein einigermaßen ge­bilde­ter und jeden­falls zur Reflexion (auch über das eigene Tun) befähigter Mensch im Rahmen seines beruf­lichen Auftrags offen­sichtlich mühelos über die Anerkennung des Nebenmenschen als Menschen hinweg­setzen? Warum genügen einige Formeln vom Über­lebens­kampf der Rassen oder des Abendlands mit dem Bolschewismus, damit Hein­rici keineswegs einen rück­sichts­losen Defensivkampf führt, sondern ein Land erobert, um große Teile seiner Bevölkerung zu vernichten und den Rest zu knechten?
    Hürters exzellentes Buch stellt nicht nur die Fragen, sondern deutet auch die Antworten an, die im Material selbst zu finden sind. Ein verblüffend selbstverständlicher Antisemitismus (obwohl Heinricis Frau nach den Nazi­gesetzen ›Halbjüdin‹ ist – und er keineswegs an Trennung denkt) spielt eine Schlüs­selrolle. Ebenso rei­bungs­los funktioniert in Heinricis Bewusstsein die Ver­ach­tung der Slawen: Überall, wo er im Osten auf primi­tive Verhält­nisse oder schlicht auf Armut stößt, bietet sich diese Erfahrung als Verstärkung des Bildes vom unterlegenen Slawen­tum an. Aber diese Melange aus Verach­tung und Furcht vor primi­tiver Wildheit über­la­gert auch noch ohne Schwierigkeiten jede Erinnerung an die Forderung nach Nächs­ten­liebe. Sofern dem Fachmann Heinrici, der seinen Selbstwert hauptsächlich aus der Erfül­lung der beruflichen Anforderungen bezieht, die ›man‹ an ihn stellt, ein paar Rechtfertigungsgründe angeboten werden, die zu seinem Weltbild passen, funk­tioniert er (selbst bei wach­sender Skepsis hin­sichtlich der Erfolgs­aus­sich­ten) als Trup­p
en­­führer einerseits und Verwüster des besetzten Landes ande­rer­seits. Und post festum gelingt es ihm noch, die Schuld (an der Nieder­lage, keine eigentlich mora­lische) bei seinem Vorgesetzten, bei Hitler und seinen noch engeren Vasallen ab­zu­laden. – Heinrici ist kein Monster; er ist mir ähnlich genug, dass ich seine Texte in jedem Aspekt leicht lese und verstehe. Und genau dadurch stellt er ein großes, bedrückendes Rätsel dar.

[Unvollständige Korrektur: »Rätsel« sollte ich nicht sagen, das verdeckt nur die Banalität der Ähnlichkeit von Menschen, die (auf ähnliche Weise) gelernt haben zu funktionieren. (2.8.18)]

22. September 2016
Kein Urteil, sondern ein Hinweis: Im aktuellen Quartalsheft der Büchergilde Gutenberg liest man einen infor­ma­ti­ven kurzen Text von Herbert Gebes über
Peter Weiss' Ästhetik des Widerstands : Die Büchergilde bringt das Werk Ende Oktober (offenbar mit Lizenz von Suhrkamp) in einer neuen Ausgabe heraus. Debes schreibt dazu: »Denn die beiden Ausgaben des Suhrkamp Verlags (BRD) ab 1975 und die des Henschel Verlags (DDR) 1983 weichen im Text vor allem im dritten Teil, der sich eingehend mit dem Widerstand der ›Roten Kapelle‹ befasst, beträchtlich von­ein­ander ab. […] Der Philologe Jürgen Schutte hat nun endlich eine ›definitive‹ Fassung erarbeitet, die den Text nach den Vorgaben von Peter Weiss präsentieren soll.« (S. 31) Wer das Buch, wie ich, in der alten Suhr­kamp-Ausgabe gelesen hat, sieht dieser Neuedition (1200 Seiten) nun mit Spannung und einem Hauch Skepsis entgegen …

6. September 2016:
Klaus-Jürgen Bremm: 1866. Bismarcks Krieg gegen die Habsburger, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2016
Vor ein paar Wochen habe ich bei einem kurzen Elternbesuch einen Artikel über die Schlacht bei Aschaf­fenburg vor 150 Jahren in der Lokalzeitung (»Main-Echo«) überflogen; das hatte ich schon wieder ver­ges­sen, als ich dieses Buch bei der WBG bestellt habe. Der ganze preußisch-öster­reichi­sche Krieg ist ziemlich vergessen, selbst bei Leuten, die an sich schon wissen, dass er statt­ge­fun­den hat und zum unmittelbaren Vorspiel der Reichsgründung von 1871 gehörte. Da ist es ver­dienst­lich, wenn ein Verlag ein neues popu­lär­wissen­schaft­liches Buch herausbringt, in dem fast alle Schau­plätze des Krieges vorkommen und er sich so wieder in die Lokalgeschichten ein­glie­dern lässt … Einen echten Schwerpunkt scheint mir die Darstellung Bremms nicht zu haben: Die Technik­geschichte spielte eine Rolle, denn die Vorteile des preußischen Zünd­nadel­gewehrs könnten kriegs­entscheidend gewesen sein; aber besonders deutlich ist des Autors Darstellung in diesem Punkt nicht (etwa zum Zusammen­hang zwi­schen Art des Gewehrs und Taktik, S. 92f.). Die allgemeine politische Entwicklung in den beiden hauptsächlich be­teiligten Staaten nimmt relativ breiten Raum ein, aber bei der Entwirrung der österreichisch-ungarischen Ver­hält­nisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts stößt man in einer nicht allzu großen Monografie (von knapp 300 Seiten) natürlich schnell an Grenzen.
     Bremm sieht und unterstreicht sogar, dass die rasche wirtschaftliche Entwicklung in manchen Terri­torien des alten ›Deutschen Bundes‹ erheblich zur politischen Dynamik beiträgt, weil der Maßstab der neuen industriellen Produktion auf Vereinheitlichung im dazu passenden Maßstab des nationalen Markts drängt. Man möchte es aber ein bisschen genauer wissen: Warum wird Preußen deshalb aktiv, obwohl doch die ostelbischen Junker ein­fluss­reich bleiben? Warum bleibt das fortschrittliche Baden bundestreu? Kurz: Wie weit trägt dieses Erklärungsmodell? Bremm will aber auch die Motive und Gefühls­lagen der führenden Politiker nicht zu kurz kommen lassen; schließ­lich ist Bismarck ein populärer Name und der Mann eine reizvolle Figur, dessen Charakter man schön mit breitem Pinsel malen kann. Trotzdem ist es ein bisschen drastisch, ihm bei mehreren Gelegenheiten regelrechte Hass­gefühle zuzuschreiben; oder ist das bloß Ausdruck der Tatsache, dass Bremm mit dem Wort „Hass“ modern-frei­gebig umgeht?
     Zu Beginn und Ende skizziert der Autor auch Wertungen und Schlussfolgerungen, die die Bedeutung und Nach­wirkung des Geschehens, besonders des Kriegsausgangs betreffen. Bremm will den ent­stehen­den Nationalstaat, die kleindeutsche Lösung mit ihren verfassungspolitischen Kompromissen in Schutz nehmen: Weder sieht er von dort aus einen mehr oder weniger geraden Weg zu Hitler noch um 1866 herum überhaupt Alternativen. Letzteres Argument hat einiges für sich; eine föderale Lösung (so wie sie sich Goethe gedacht haben mag) hatte schon 1848 keinen starken Rückhalt und war dazwischen noch einmal unter den Fürsten gescheitert; Preußen hatte halt das Übergewicht, sobald Österreich aus­ge­schie­den war, und englischen Parlamentarismus gab es nur in Groß­britan­nien. Bremm verschließt sein Auge keineswegs vor ungesunden Folgen der Abtrennung für Österreich, wie der schwindenden Balance im inneren Machtgleichgewicht. Dass er gleich eingangs die Apologie des Nationalstaats in (modische) Euro­pa­skepsis überführt, ist gedanklich nicht ganz auf der Höhe. An Präzision, an Scharfsinn lässt es das Buch manchmal ebenso fehlen wie an wissenschaftlicher Gründlichkeit, aber die kann man von einer Pu­bli­ka­tion dieses Formats auch nicht in hohem Grad verlangen.
     Unmittelbar nach der Lektüre war ich ziemlich enttäuscht von dem Buch, von einem gewissen Mangel an Kon­turen und Stringenz. Jetzt, da ich diese Bemerkungen aufschreibe, kann ich nicht übersehen, dass es guten Stoff zum Nachdenken bietet. Eigentlich müsste ich es – es hat wohl Stärken und Schwächen – nicht hier kommen­tie­ren, aber es gibt einen Umstand, der mich beim Lesen ein paarmal beinahe in Rage versetzt hat: Das miserable Lektorat. Man sollte erwarten, dass bei Schlachtbeschreibungen die Orts­namen etwa stimmen und die genannten Lokalitäten mit den Ortsnamen in den abgedruckten Karten (die ungenau genug sind) übereinstimmen. Es kann vielleicht passieren, dass man Legnano (nordwestlich von Mailand) mit Legnago (südöstlich von Verona) ver­wech­selt, aber für eine Schlacht um Venetien macht es schon einen gewaltigen Unterschied. Aber wie kann man hart­näckig die Etsch (an der sich die Chose abspielt) als Adda, die fast 150 km westlich fließt, ansprechen? Der ita­lie­nische Name der Etsch (Adige) erklärt das bestimmt nicht, zumal der Fluss in den Karten eben seine richtigen Namen trägt (dort heißt der Mincio auch so und nicht Minico). Der Vogel wird auf Seite 219 abgeschossen, denn bei der Noris, an der angeblich Nürnberg liegen soll, kann es sich nur um einen solchen handeln, oder? Hat außer dem Autor, der es ein bisschen eilig gehabt zu haben scheint, niemand den Text gelesen? Zugegeben, der Name eines »Hersteller Tors« in Aschaffenburg fällt auf anhieb nur jemandem auf, der wenigstens den Herstallturm in dieser Stadt kennt. Aber man wird dann arg misstrauisch gegenüber dem Text: Was hat es mit dem schwer nach­weis­ba­ren »Osnert« auf sich, bei dessen Erstürmung das preußische 36. In­fanterie­regiment 432 Mann verlor (S. 218)? Ein Freund hat für mich herausgefunden, dass bei Uettingen (zwi­schen Markt­­heiden­­feld und Würzburg, wo das Ge­fecht stattfand) ein Hügel namens Ostnert zu finden ist (der in Theodor Fontanes Buch über den »Deutschen Krieg von 1866« aber Osnert heißt); zwischendurch hielt ich einen Druckfehler (statt ›des Ortes‹) für wahrscheinlicher.
     Kurzum: Der Verlag sollte die Textkorrektur nicht gänzlich dem Leser (und Käufer) überlassen – und die WBG war mal für ihr ausgezeichnetes Lektorat und entsprechend zuverlässigen Satz und Druck berühmt. Aber das Klage­lied über die WBG will ich diesmal nicht anstimmen; die An­mer­kun­gen zu »1866« sind eh schon viel zu lang.

4. September 2016:
Thea Dorn: Die Unglückseligen, München 2016
Eine ehrgeizige Biologin, Expertin für die Genetik des Alterns, trifft bei einem Forschungs­aufent­halt in den USA auf einen aus der Romantik übrig gebliebenen deutschen Physiker, der sich seinerzeit wohl mit jener Macht ein­ge­lassen hat, die auch beider Kollegen Johann Faust zur einen oder anderen Erkenntnis und Errungenschaft ver­hol­fen hat. Vom Stand­punkt eines Verlagslektors sicher eine vielversprechende Idee, um deutsche Vergangenheit und Gegenwart, amerikanischen Optimismus und deutsche Bedenklichkeit, romantische Sehnsucht nach Welt­er­kennt­nis und modernes Erfolgsstreben im kompetitiven Forschungsbetrieb aufeinander prallen und in Wechsel­wir­kung treten zu lassen, zumal eine vermeintliche Heils­botschaft der Molekular­biologie, der vielleicht zum Grei­fen nahe Sieg im Kampf gegen das Altern, den stofflichen Boden abgibt, auf dem diese Begegnungen geschehen. Für viele Buchkonsumenten wäre was dabei und fürs Feuille­ton ohnehin. Der Verlagslektor hat sich auch nicht ge­täuscht, üppiger Erfolg hat sich eingestellt.
     Allein der Leser schneidet schlechter ab: Er ist nach 550 Seiten (besagter Lektor hat wohl nicht gewagt, Kürzun­gen zu verlangen …) nicht viel klüger als nach 50, hat allenfalls die Bekanntschaft mit einem Teufel erneuert, der seine Sache ganz gut und modern zu verkaufen weiß und der (wie Mephisto im Faust) neben dem schuldgeplagt-unglücklichen, aber spinnerten Mann aus einer offenbar noch recht zauberhaften Zeit um 1800 und der biestig-ent­schlossenen, bislang erfolgreichen Frau einer sehr prosaischen Gegenwart eine sympathisch-vernünftige Figur macht, auch wenn er nur als Kommentator der Erzählung auftritt.
     Denn bei all diesen Spannungen, gegensätzlichen Zielen, Risiken … passiert eigentlich nichts. Der Romantiker ziert sich arg, seine Geschichte preiszugeben, ja er ist am Ende des Romans immer noch nicht recht dazu ge­kom­men. Die sich nüchtern dünkende Naturwissenschaftlerin hört ihm ohnehin nicht zu. Er spricht unablässig so, als wäre er die Diktion einiger recht un­be­hol­fener Werke, die er in seiner frühen Jugend gelesen haben muss (Lessing oder Wieland kommen nicht in Frage, neuere erst recht nicht), in fast zweieinhalb Jahrhunderten nicht los­ge­wor­den, hätte höchstens ein paar Wendungen von Novalis oder Brentano seinem Sprach­schatz hinzu­gefügt. Sie redet, als wäre alles, was über Anweisungen und Protokollsätze hinausgeht, un­morali­sche Zeitverschwendung, die man allenfalls zur Manipulation seiner Mit­menschen in Kauf nehmen muss (also so, wie sich ein Geistes­wis­sen­schaft­ler mit einem gewissen Restdünkel jene Drittmittel-verwöhnten, mäßig gebildeten, arbeitsamen Quasi-Kollegen halt vorstellt). Und die übrigen Figuren sind Staffage, sie kommen und gehen (oder werden beseitigt), so wie sie ge­braucht werden.
     Am Schluss hat der Erzähler sogar seine liebe Mühe, die beiden Hauptfiguren verschwinden zu lassen (eine von beiden zeichnet sich schließlich durch eine Zählebigkeit aus, die das Er­klä­rungs­poten­zial sogar der aus­ge­wie­se­nen Expertin transzendiert, und die andere machte wenigstens anfangs einen ganz gesunden Eindruck), denn anders ist das Geschehen gar nicht mehr zu Ende zu bringen. Der Teufel hat, obwohl doch sonst ein treuer Ver­trags­partner, das Interesse an diesen beiden schließlich verloren; und da er dem Leser nie angedeutet hat, was er denn mit ihnen vor­hatte, war es dem schon ein paar hundert Seiten früher so ergangen. (Aus Gründen, die zu er­läutern hier zu weit führen würden, habe ich das Buch innerhalb meiner Familie verschenkt; es liegt mir seit zwei Wochen nicht mehr vor und ich urteile aus der Rück­schau. Der Kollege, der mir das Dornsche Werk empfohlen hatte, war übrigens auch nach meiner Kritik nicht bereit, es nun direkt schlecht zu finden. In unserer Diskussion spielte der Vergleich mit Ian McEwans
Solar eine gewisse Rolle – vielleicht kann ich den nicht ganz un­inter­es­san­ten Haupt­punkt der Kontroverse darüber hier gelegentlich nachtragen.)

Schnipsel

René Descartes, Discours de la méthode, troisième partie, § 2 (Œuvres, éd. Adam / Tannery, vol. VI, p. 23)

Text und Übersetzung nach: Discours de la Mé­thode pour bien con­duire sa raison et cher­cher la véri­té dans les sciences / Be­richt über die Me­thode, die Ver­nunft richtig zu führen und die Wahr­heit in den Wissen­schaf­ten zu er­for­schen. Über­setzt und her­aus­ge­geben von Holger Ostwald. 2. Aufl., Stuttgart: Reclam 2019, S. 46–49.

Frans Hals: René Descartes, 1648 (Ausschnitt, sw)

[Die praktischen Grundsätze der Leute finden]


…; et que, pour savoir quelles étaient véri­table­ment leurs opi­nions, je devais plutôt pren­dre garde à ce qu’ils prati­quaient qu’á qu’ils disaient; non seule­ment à cause qu’en la cor­rup­tion de nos mœurs il ya peu de gens qui veuillent dire tout ce qu’ils croient, mais aussi à cause que plu­sieurs l’ignorent eux mêmes; car l’action de la pen­sée par la­quelle on croit une chose, étant dif­fe­rente de celle par la­quelle on con­naît qu’on la croit, elles sont sou­vent l’une sans l’autre.

…; und um zu erfahren, welches ihre wirk­lichen An­sich­ten waren, musste ich viel mehr auf das achten, was sie taten, als auf das, was sie sag­ten, nicht nur, weil es bei dem Ver­fall unse­rer Sitten nur wenig Leute gibt, die alles, was sie glau­ben, sagen wollen, son­dern weil viele es selbst nicht wis­sen; denn der Akt des Den­kens, durch den man etwas glaubt, ist von dem, durch den man er­kennt, dass man es glaubt ver­schie­den – oft ist der eine ohne den ande­ren.

Wohllaut


… Percy Gardner fesselte durch die Kunst des Vortrages auch diejenigen, welche die Sprache nicht verstanden. Es klingt eben eine jede Sprache schön, wenn sie ein Meister des Wortes spricht.


Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Erinnerungen 1848–1914, Kapitel X: Berlin, Leipzig 1928, S. 273 (zitiert nach der Digitalisierung von zeno.org, http://www.zeno.org/nid/20003844773)

Lithografie von Max Liebermann

Größe


Sehr geehrter Herr Kollege!

Durch Kollegen Haber erfahre ich, dass Sie Bedenken tragen, Ihre Unterschrift für die Förderung der anglo-amerikanischen litterarischen Hilfsaktion für Zentral-Europa herzugeben, weil Sie es ablehnen mit mir zusammen, den Sie als unabhängigen Sozialisten bezeichnet haben, auf einer Liste zu figurieren. Ich bin jederzeit gerne bereit, mich von dieser Angelegenheit zurückzuziehen, wenn ich ihr dadurch einen Dienst erweisen könnte, zumal es fraglich erscheinen kann, ob ich als Schweizer mich mit Recht an dieser Angelegenheit beteilige. Wenn ich mich dennoch nicht sogleich zurückgezogen habe, so zögerte ich einzig in der Erwägung, dass ich durch meine guten Beziehungen in dem ehemals Deutschland feindlichen und neutralen Auslande dieser im Interesse der Wiederherstellung der internationalen wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft hoch erfreulichen und wichtigen Aktion dienen zu können glaube. Unter diesen Umständen wäre es wohl das Beste, wenn wir in den nächsten Tagen die Angelegenheit in Ruhe zusammen besprächen, am liebsten Donnerstag in der Akademie; ich bin aber auch zu einer Zusammenkunft an einem andern Orte gern bereit.
Mit ausgezeichneter Hochachtung


gez. A. Einstein

[an Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 19. April 1920]


Abgedruckt als Anhang 5, S. 348, in: Wegeler, Cornelia: »… wir sagen ab der internationalen Gelehrtenrepublik«: Altertumswissenschaft und Nationalsozialismus. Das Göttinger Institut für Altertumskunde 1921 – 1962, Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1996, zitiert nach der Rezension dieses Buches von Ingomar Weiler in: Grazer Beiträge. Zeitschrift für klassische Altertumswissenschaft, 22 (1998), 317–319 (S.319)

Ernst Ferdinand Klein: Grundlinien einer Theorie von dem Nuzen der Gewalt und des Zwanges, und besonders von ihrer Brauchbarkeit für den Gesezgeber
»Man denke sich einen Kritiker, der sich Zeit seines Lebens mit nichts als Varianten sammlen be­schäf­ti­get hätte. Man setze den Fall, daß die Obrig­keit, welche ihn in eine nüz­li­che­re Thätig­keit sezen wolte, ihm diese seine Lieb­lings­be­schäf­ti­gung, bei welcher er grau ge­worden wäre, auf einmal unter­sagte. Man nehme ferner an, daß man es ihm un­mög­lich gemacht hätte, diese[m] Ver­bote zu­wider zu handeln. Würde nicht als­denn sein ganzer ge­lehr­ter Eifer und mit ihm alle seine Glück­selig­keit und Tugend auf einmal dahin sein? Denn was könte der arme Mann nun weiter thun, als essen, trinken, schlafen und vor langer Weile ver­schmach­ten? Da wäre kein Be­wußt­sein, etwas gethan zu haben, was der Mühe werth wäre; kein Ver­langen etwas zu wirken, was er für gut hielte. Ver­ge­bens würde man ihn zu einer Arbeit nö­thi­gen die er haßte; ver­ge­bens ihn zu einer Be­schäf­ti­gung er­mun­tern, die ihm nicht gelänge; ver­ge­bens ihm Vor­thei­le ver­spre­chen, die er nicht schäzte; sein Stolz würde sich endlich in Mut­losig­keit, und seine Liebe zur Ge­lehr­sam­keit in Men­schen­haß ver­wan­deln. Und was hätte man da­durch anders be­wirkt, als daß man einen Men­schen, den man bes­sern wolte, ganz un­nütz ge­macht hätte.«
Deutsches Museum, Jg. 1784, Bd. 2, 11. Stück, November, S. 386–411, hier S. 397 f. (§ 19)
318
On trouve des moyens pour guérir de la folie, mais on n’en trouve point pour redresser un esprit de travers.
François de La Rochefoucauld, Maximes et réflexions morales / Maximen und Reflexionen, herausgegeben und übersetzt von Jürgen von Stackelberg, Stuttgart: Reclam 2021
Leib-Wäsche-Geist-Nahrung

Dieter E. Zimmer, Gespräch mit Hubert Fichte, Die Zeit, 11.10.1974

D. E. Z.: Warum nehmen Homosexuelle oder andere ›Perverse‹ ihre Sexualität soviel wichtiger als die ›Normalen‹? Oder viel­leicht nehmen sie sie nicht wichtiger, nur reden sie mehr dar­über. Hat das nur exogene Gründe: diese ganze Tradition der Diskriminierung? Oder könnte es auch an der Struktur des Trieblebens selbst liegen? Ist es tiefer [!], abgründiger, be­herr­schender?

H. F.: Homosexuelle sprechen nicht mehr von ihrer Sexua­lität als anders Veranlagte, Verbalsexualisten vielleicht ausgenommen. Es fällt nur mehr auf, weil die Ge­sell­schaft gewöhnt ist, daß nur Heterosexuelle, und nur Män­ner, von ihrer Sexualität reden. […] Wo sind denn die Bücher über Homosexualität der großen homosexuellen Autoren der Nachkriegszeit? Die wenigen bedeutenden homosexuellen Liebesgeschichten der neueren deut­schen Literatur sind von verheirateten und ›nor­malen‹ Autoren verfaßt, von Wedekind, Thomas Mann, Bertolt Brecht und Hans Henny Jahnn. Die Behauptung, Homo­sexuelle nähmen ihre Sexualität wichtiger und re­deten mehr davon als die Normalen, ist eine Insi­nu­ation, die das hervorruft, was sie zu beklagen vorgibt, nämlich Aussonderung und Psychoneurose.

(zitiert nach: Hubert Fichte. Materialien zu Leben und Werk, hrsg. von Thomas Beckermann, Frankfurt a. M.: Fischer 1985, S. 118)

Bernhard Schlink, Die gordische Schleife, Zürich: Diogenes 1988

Er wurde unleidlich wie alle unglücklichen Menschen.

(S. 10)

Georg Kaiser, Gas. Schauspiel in fünf Akten. Gas. Zweiter Teil. Schauspiel in drei Akten, hrsg. von Eckhard Paul, Stuttgart: Reclam 2013
Zweiter schwarzer Herr
     Die Katastrophe ist ein schwarzes Blatt –
Vierter schwarzer Herr
     Wir buchen sie –
Fünfter schwarzer Herr
     – und überschlagen die Seite!

(Gas, 3. Akt, S. 55)
Friedrich Dürrenmatt: Der Richter und sein Henker, 2.971.000-3.000.000, Reinbek bei Hamburg: Oktober 1988
«Was hat er denn für einen Beruf?»
«Philosophe.»
«Was verstehen Sie darunter, Charnel?»
«Ein Mann, der viel denken und nichts machen.»
«Er muss doch Geld verdienen?»
Charnel schüttelte den Kopf.
(S. 41)
Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun?, ungekürzte Neuausgabe mit einem Nachwort von Carsten Gansel, Texterfassung von Mike Porath und Nele Holdack, Frankfurt am Main u.a.: Büchergilde Gutenberg (Lizenz Aufbau Verlag) 2016
»Heute, nur heute verdiene ich noch, morgen, ach morgen, stemple ich doch …« (S. 173)

J. D. Salinger: The Catcher in the Rye, Harmondsworth: Penguin 1983
»The thing Jesus really would've liked would be the guy that plays the kettle drums in the orchestra. I've watched that guy since I was about eight years old. My brother Allie and I, if we were with our parents and all, we used to move our seats and go way down so we could watch him. He's the best drummer I ever saw. He only gets a chance to bang them a couple of times during a whole piece, but he never looks bored when he isn't doing it. Then when he does bang them, he does it so nice and sweet, with this nervous expression on his face. One time when we went to Washington with my father, Allie sent him a postcard, but I'll bet he never got it. We weren't too sure how to address it.« (S. 143f.)

Cormac McCarthy: No Country for Old Men, Taschenbuchausg. London: Picador 2007
»If there aint nothin to be done about it it aint even a problem. It's just a aggravation.«
Sheriff Bell (S. 283)

Michel de Montaigne: Essais, übersetzt von Hans Stilett, München 2002
»Ein edelsinniges Herz aber hat es nicht nötig, seine Gedanken zu verleugnen, es will vielmehr, daß man ihm bis ins Innerste sehe, denn alles darin ist gut, alles darin ist zumindest menschlich. […] Jedesmal, wenn ich mich den Großen gegenüber in Sprache und Benehmen ebenso ungeniert gebe, wie ich es von zu Hause gewohnt bin, spüre ich durchaus, wie nahe dies an Taktlosigkeit und Ungezogenheit grenzt.« (II, 17, S. 479 u. 482; wegen M....b..)

Jonathan Franzen: The Corrections, London: Fourth Estate 2010

»A man by himself could weather Eden's enthusiasm, but two men together had to gaze at the floor to preserve their dignity in the face of it.« (S. 124)

Franz Blei: Das große Bestiarium der Literatur, Ausgabe Frankfurt am Main: Insel 1982
Vierter Exkurs (S. 136-146). Kunst: »Es handelt sich um Bräuche einer bestimmten Kaste.« (S. 145) »Die Geschichte der Künste ist der catalogue raisonné jener Werke, welche in der Zeitenfolge von der ästhetischen Kaste ausgewählt wurden.« (S. 146)
Share by: